»Lost« »Beyond« »Improvisation«
Bericht von musiktheoretischer Partizipation an drei künstlerischen Promotionsvorhaben[1]
Gesine Schröder
Das Fach Musiktheorie (Tonsatz, historische Satzlehre) kann sich in Artistic Research mit den drei Profilen des Fachs einbringen: dem künstlerischen, dem wissenschaftlichen und dem pädagogischen. Der Artikel berichtet anhand von drei Beispielen aus der eigenen Betreuungspraxis der Verfasserin, wie das geschehen kann.
The subject of music theory (historically oriented composition) can contribute to Artistic Research with the three profiles of the subject: the artistic, the scientific and the pedagogical. The article reports on how this can happen, using three examples from the author’s own teaching practice.
Der Artikel gibt exemplarisch Einblick in drei Artistic-Research-Projekte mit musiktheoretischen Anteilen. Eines wurde abgeschlossen (im Dezember 2021 an der Universiteit Leiden), zwei weitere laufen noch (an der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien). Ich berichte aus der Perspektive der externen Gutachterin, der Betreuerin und der Betreuerin von Vorarbeiten eines Promotionsvorhabens. Skizziert wird auch die institutionelle Einbettung der Vorhaben. Der Artikel konzentriert sich auf die Rolle, die das Fach Musiktheorie, so wie es hier von der Verfasserin vertreten wird, bei diesen Artistic-Research-Projekten einnimmt: Wo kommt sein künstlerischer Anteil ins Spiel, wo mehr sein pädagogischer und wo sein wissenschaftlicher? In welches Verhältnis kann Musiktheorie zu dem künstlerischen Fach oder den künstlerischen Fächern treten, soweit dieses nicht selbst als Musiktheorie definiert wurde?
Fall 1. Bert Mooiman
Als externe Gutachterin wirkte ich in der zweiten Hälfte des Jahres 2021 an einem künstlerischen Promotionsverfahren an der Universität Leiden mit. Promoviert wurde der Pianist, Organist, Improvisator und Theorielehrer Bert Mooiman (*1965).[2] Seit Langem und regelmäßig orgelt er in Gottesdiensten der Scheveninger Badkapel, am Konservatorium Den Haag unterrichtet er Theorie. Sein Musiktheoriestudium schloss er 2003 nach künstlerischen Studien in Orgel und Klavier als fast Vierzigjähriger ab. Der akademische Titel der künstlerischen Promotion setzte seinen zahlreichen akademischen Abschlüssen ein Extra drauf. Mooiman erwarb ihn, weil er von Experten begleitet forschen wollte; für seine berufliche Laufbahn benötigt er den Titel nicht. Während seiner Forschungen profitierte Mooiman von einem vierjährigen Doktorandenstipendium der Nederlandse organisatie voor Wetenschappelijk Onderzoek (Niederländischen Organisation für wissenschaftliche Untersuchungen).[3] Entstanden ist Mooimans Dissertation einschließlich ihres künstlerischen Teils innerhalb des Doktoratsprogramms der Academy of Creative and Performing Arts (ACPA), einem Institut der Universiteit Leiden. Es existiert eine Kooperation zwischen ACPA und der Hogeschool der Kunsten Den Haag (Hochschule der Künste Den Haag), unter deren Dach die Koninklijke Academie van Beeldende Kunsten (Königliche Akademie der Bildenden Künste) und das Koninklijk Conservatorium (Königliche Konservatorium) verbunden sind.[4] Anschluss haben die Musiker*innen des Leidener künstlerischen PhD-Programms bei Bedarf außerdem an »docArtes«, das vom Orpheus Instituut in Gent offerierte »doctoral programme in musical arts«.[5]
Im Dezember 2021 verteidigte Mooiman seine Dissertation. Sie trägt den Titel An Improvisatory Approach to Nineteenth-Century Music und ist über das Repositorium der Universiteit Leiden im Open Access veröffentlicht, freigegeben ein halbes Jahr nach der Defensio.[6] Im Zentrum der Untersuchungen steht die solistische Improvisation auf Tasteninstrumenten. Praktisch alle Fragestellungen der Dissertation sind für das Fach Musiktheorie entweder wesentlich, überschneiden sich mit ihm oder tangieren es: Man findet Rekurse auf Generalbasslehren und Klavierschulen, sodann musikalische Analysen von Stücken, die als niedergeschriebene Improvisationen verstanden werden können, es gibt Studien über historische Anleitungen zum Fantasieren, Mooiman durchforstet Gesangslehren, denn der Belcanto gehört für ihn zu den wichtigsten Quellen auch des freien Improvisierens auf dem Klavier. Für die Rekonstruktion melodischer und figurativer Patterns zieht er neben Dokumenten zu sängerischen Praktiken solche zu Violinspielkulturen des 19. Jahrhunderts und Klavierstücke im brillanten Stil zu Rate. Während er dramaturgische Abläufe, Gangarten und Wirkungsweisen von Improvisiertem analytisch über (nicht nur musikbezogene) Rhetorik und über eine quasi-anthropologische Studie zum Wandern und dessen Auswirkung auf Temponahmen erfasst und sozusagen nachspielt, rekonstruiert und revitalisiert Mooiman über Einfühlung und Nachahmung bestimmte Zweige der Aufführungsgeschichte. Untersucht hat er anhand früher Tonaufnahmen – beispielsweise der Schüler*innen Clara Schumanns – die Geschichte der musikalischen Interpretation auf Tasteninstrumenten, soweit sie für den Kontext relevant war. Infolge seiner Ergebnisse setzt Mooiman den Anteil von Improvisatorischem auch am Literaturspiel hoch an. Schließlich entwickelt er eine kleine Improvisationsdidaktik (zum Üben harmonischer Formeln, melodischer Wendungen und für bestimmte Formabschnitte typischer Modulationsprozesse), wobei er seine Erfahrung als Lehrer am Konservatorium Den Haag einbringt, diesmal auch bezogen auf das klavierbegleitete Improvisieren von Melodieinstrumenten und nicht nur solistisch.
Mooimans künstlerisches Fach, die historisch inspirierte Improvisation, ist eine Mischung von Instrumentalspiel und Musikerfindung. Die Erfindung stützt sich in weiten Teilen auf Musiktheorie. Historisch informiertes Improvisieren revitalisiert Ergebnisse theoriegeschichtlicher wie auch aufführungsgeschichtlicher Studien, indem diese in Klang zurückübersetzt werden. Für Mooiman ist Improvisieren eine Praxis, die sich »nur schwerlich aus Konzepten ableiten lässt. Improvisation ist daher nicht etwa angewendete Musiktheorie; vielmehr ist sie für mich ein extra Zugang zur Theorie, damit die Konzepte besser gegründet sind, vor allem im Unterricht. Man lernt die Grammatik auch besser, wenn man eine Sprache aktiv spricht.«[7] Daher ist Musiktheorie unter den Fachgebieten der Personen, die Mooimans Dissertation betreut, begutachtet und die den Kandidaten bei den abschließenden Veranstaltungen befragt haben, gut vertreten. Um eine Vorstellung davon zu vermitteln, wie das letzte Stadium eines solchen Verfahrens an der Universiteit Leiden abgewickelt wird, seien die von inhaltlicher Seite her mit ihm befassten Personen aufgelistet. Die drei Betreuer standen für drei Disziplinen: Mooimans Hauptbetreuer war Marcel Cobussen, Professor für Auditory Culture und Musikphilosophie (Universiteit Leiden und Orpheus Instituut Gent). Cobussen begann seine akademische Laufbahn mit einem Jazzklavierstudium, er hat viel über Improvisation publiziert.[8] Mit Hans Fidom, Professor für Orgelkunde an der Vrijen Universiteit Amsterdam, hatte Mooiman einen Zweitbetreuer, bei dessen wissenschaftlicher Arbeit das Instrument im Zentrum steht.[9] Mooimans Co-Supervisor Michiel Schuijer vom Conservatorium van Amsterdam ist ein ›echter‹ Musiktheoretiker.[10] Außer meinem kam ein weiteres externes Gutachten der Promotionskomiteemitglieder von Roger Graybill, einem am New England Conservatory lehrenden Musiktheoretiker, dessen Zuständigkeit sich damit erklärt, dass Theoriepädagogik und Musik des späteren 19. Jahrhunderts zu seinen Spezialgebieten gehören, auch ist er als Kirchenorganist aktiv.[11] Weitere Mitglieder des Promotionskomitees kamen von der Universiteit Leiden, darunter zwei, die sachkundig für die Rhetorik-Abschnitte von Mooimans Dissertation sind, der Gräzist Casper de Jonge, der nebenbei an der Den Haager Waalse Kerk orgelt, und Jaap de Jong, Professor für Journalismus und neue Medien.[12] Außerdem zwei für Aufführungsgeschichte Zuständige: der Lecturer Jed Wentz und bei der Defensio selbst die Assistenzprofessorin Anna Scott, die sich als »pianist-researcher« auf musikalische Aufführungspraxis des 19. Jahrhunderts spezialisiert hat.[13] Dass noch Henk Borgdorff teilnahm, von seiner Herkunft Musiktheoretiker, lag nahe: Als einer der Pioniere von Artistic Research ist er an der Universiteit Leiden emeritierter Professor für Theorie der künstlerischen Forschung.[14]
Es sei nochmals erörtert, weshalb ich mir für Mooimans Dissertationsprojekt zuständig vorkam und die externe Begutachtung daher zusagte. Das Fach Musiktheorie taucht bei dem Projekt zwar nur in geringerem Maß im Verständnis von Theoriebildung auf, und wenn man musikalische Analyse im Sinne von Notentextanalysen als Teilbereich von Musiktheorie auffasst, gilt Ähnliches: Solche Analysen waren für Mooimans Projekt marginal, wichtig waren aber Höranalysen von historischen Aufnahmen und dessen, was Mooimans Studierende in ihren Improvisationsübungsstunden spielten. Das Projekt reicht indes vor allem in den künstlerischen und den pädagogischen Aspekt des Fachs Musiktheorie hinein, in jene Aspekte des Fachs also, die zum Tagewerk von Theorielehrer*innen gehören: Sie leiten an zum Reproduzieren historischer Musiksorten, zu historischen Formen des Musikmachens, zur Nachahmung eines historischen Musickings. Man soll mit solchem Theorieunterricht in die Lage versetzt werden, es wiederzubeleben oder jedenfalls Anteile davon in heutige Spielpraxis sogar aktueller Musik einfließen zu lassen. In seinem Abstract formuliert Mooiman ein auf Theorieunterricht bezogenes pädagogisches Forschungsziel (Musiktheorie wird hier explizit als Musikmachen in historischen Stilen verstanden, jetzt geht es aber nicht um aufgeschriebene Stilkopien, sondern um aus dem Stegreif gespielte). Um herauszufinden, wie es im Unterricht an Hochschulen oder Konservatorien gelingen kann, die Fähigkeit zum Improvisieren in historischen Stilen zu erwerben, führte Mooiman mit Studierenden zahlreiche Experimente durch, die er zum Teil mithilfe von Audioaufnahmen dokumentiert. Er offeriert Lehrmaterialien in Form von entweder partimentoartig notierten Harmonieabläufen oder er hält (abgekürzt auf Notenpapier) in Oberstimmen zu realisierende Harmonien fest (gewöhnlich unter Absehung genauer Zeitdauern, notiert sind nur Stationen). Und er erläutert die Stationen des Lernens, zu denen Besinnungs- und Wiederholungsprozeduren gehören.
Mooimans Defensio umfasste zwei Teile: eine künstlerische Präsentation und eine Defensio der schriftlichen Arbeit einschließlich der Audiodateien. Die künstlerische Präsentation bestand in einem Improvisationskonzert. Mooiman spielte in der Scheveninger Nieuwe Badkapel auf drei Instrumenten, einem Pleyel-Flügel von 1910, einem Ende des 19. Jahrhunderts gebauten französischen Harmonium der Firma Alexandre Père & Fils und der 1926 von der Firma Pieter van Dams II gefertigten Badkapel-Orgel.[15] Die Mitglieder des Promotionskomitees wurden einige Tage vor dem Konzert gebeten, ein ›Thema‹ zu liefern, das Mooiman eine Stunde vor dem Konzert übergeben werden würde. Ich sandte zwei ›Themen‹, ein achttaktiges in D-Dur, das ich in Antoine Reichas Kompositionslehre gefunden hatte,[16] und alternativ ein zweitaktiges Motiv in g-Moll aus einem Lied von Agathe Backer-Grøndahl (op. 60/3, Namenloses Weh, »Wohl dem, der noch vertrauen kann«). Gewünscht wurde aber ein selbst erfundenes ›Thema‹, und so lieferte ich diese empfindsamen vier Dreivierteltakte in a-Moll (siehe Bsp. 1):
Beispiel 1: Viertaktiges Thema in a-moll
Mit ihnen bestritt Mooiman sein 60 Minuten dauerndes Konzert, stilistisch durchquerte er das gesamte 19. Jahrhundert, um ausgehend von frühromantischem Klavierspiel über von dem französischen Chanson um 1900 inspirierte Kinoorgelmusik, gespielt auf dem Harmonium, bei massiv-chromatischen Orgelklängen anzulangen, die sich stilistisch jener Zeit näherten, als die Badkapel-Orgel gebaut wurde. Vorneweg hatte Mooiman kurz über die Instrumente informiert, auf denen er spielen würde. Nach dem Konzert wurde er durch das Komitee zu seinem Spiel befragt.
Der zweite Teil der Promotion bestand in der Defensio der ›proefschrift‹ von 618 Seiten zuzüglich zahlreicher Audiodateien mit historischen Aufnahmen, selbst eingespielten Exempeln und in der Unterrichtspraxis erstellten Mitschnitten von improvisierenden Konservatorist*innen. Die Verteidigung fand nach einem Zeremoniell statt, das an der Universiteit Leiden, der ältesten der Niederlande, womöglich seit ihrer Gründung im Jahr 1575 existiert:[17] Alle aktiv Beteiligten hatten sich mit Hut und Talar einzukleiden, dem mit einer Art Klingelstab stampfenden Saalmajor hinterher marschierten sie in den Saal, in festgesetzter Reihenfolge sprach man Mooiman mit »geachte kandidaat« an, formulierte die Frage oder den Einwand, der Kandidat erwiderte, alles nach bemessener Zeit, und pünktlich nach 60 Minuten beendete der Major mit Klingeln und Stampfen die Zeremonie – es folgte der Abmarsch des Komitees, Beratung, Verkündigung des Ergebnisses und Gratulationen. Das übliche Gelage fiel der holländischen Corona-Sperrstunde zum Opfer.
Ort der ›Fälle‹ 2 und 3 ist die Universität für Musik und darstellende Kunst Wien (mdw). An der mdw kann Musiktheorie (wie auch Analyse) im zweiten Studienabschnitt des Diplomstudiums »Komposition und Musiktheorie« als zentrales künstlerisches Fach gewählt werden, und selbst wenn das Adjektiv ›künstlerisch‹ nur administrativ gemeint sein sollte (als Hauptfach an einer Kunstuniversität), so spricht nichts dagegen, es ernst zu nehmen. Infolge käme Musiktheorie bei einem Promotionsvorhaben in Artistic Research mit dem Abschluss Dr. Artium auch als künstlerisches Fach in Betracht, als eines neben anderen künstlerischen Fächern, aber womöglich auch als erstes Fach. Beim Ansuchen auf Zulassung soll angegeben werden, welche Fächer mit welchem Prozentsatz zu dem Vorhaben gehören, zu fächerübergreifenden Vorhaben wird ermutigt. Der Dr.-Artium-Studiengang existiert erst seit 2020. Pro Jahrgang stehen maximal fünf Studienplätze zur Verfügung. Die Zahl der Bewerber*innen ist hoch, das Zulassungsverfahren mehrphasig und ziemlich aufwändig und wird von einer relativ großen Kommission abgenommen (mit teils wechselnden Mitgliedern – je nach den Fächern, für die es Bewerbungen gibt). Unter den für die ersten drei Studienjahre bisher fünfzehn akzeptierten Doktorand*innen ist niemand, der oder die Musiktheorie als erstes Fach gewählt hat.
Fall 2. Jagoda Szmytka
Die polnische Performance-Künstlerin und Komponistin Jagoda Szmytka (*1982) ist seit Oktober 2021 an der mdw in das künstlerische Doktoratsstudium inskribiert, sie gehört damit zum zweiten Jahrgang. Szmytkas Hauptfach ist Komposition, hinzu kommen Bildende Kunst, Soziologie und Musiktheorie. Sie hat vier Betreuer*innen: den Leiter des ARC – Artistic Research Center und elektroakustischen Komponisten Johannes Kretz, den Kulturwissenschaftler, Soziologen und promovierten Philosophen Tasos Zembylas, den Bildenden Künstler Franz Schubert von der Universität für angewandte Kunst Wien und mich.[18] Der vorläufige Titel von Szmytkas Projekt ist: Music Beyond (Disciplinary) Boundaries. Expanding Contemporary Composition. Szmytka hatte feststellen müssen, dass die meisten Komponist*innen, die mit Bildern, Objekten oder anderen nicht-klanglichen Medien arbeiten wollen, die dafür nötigen Fähigkeiten nur autodidaktisch erworben haben, da an Musikuniversitäten, -akademien oder -hochschulen fast ausschließlich klangorientiert gearbeitet werde. Daher verfügten diese Komponist*innen nicht über das volle Spektrum expressiver Möglichkeiten, sie seien nicht mit Deutungstraditionen solcher Medienkombinationen vertraut und könnten deren Wirkung in spezifischen kulturellen Kontexten schlecht einschätzen. Dieser Mangel an Wissen und vielseitigen Skills schlage auf die künstlerischen Produkte zurück.
Szmytka hat auch für den theoretischen Überbau ihrer Dissertation gesorgt und sich umfassend in postmoderne Ästhetik eingelesen. Ihr Exposé führt Foucault, Lyotard, Derrida, Barthes etc. an, unter neueren Texten natürlich Harry Lehmanns Die digitale Revolution der Musik (2012),[19] aus eher musikkundiger Feder Texte Marko Cicilianis und anderes.[20] Von einer spartenübergreifenden Kunst verspricht sich Szmytka auch lebensweltliche Kunsteffekte:
[…] speculation on applied expanded composition and its potential in creating socially relevant and actual […] real-world music.[21]
Szmytka fasste ihr Projekt so zusammen:[22] Sie wolle das Feld zeitgenössischen Komponierens neu denken (überdenken). Statt eines Komponierens mit Bange vor den Stoppschildern traditioneller Kunstsparten seien Perspektiven für die Kunsterfindung aufzuzeigen, die sich einer erweiterten kompositorischen Praxis eröffneten. Zu dem Zweck wird Szmytka die erweiterten Mittel künstlerischer Produktion systematisch erfassen, um Techniken des Komponierens oder eigentlich der Medienkombination entwickeln zu können. Sodann lasse sich befreit darüber spekulieren, worin das Potenzial erweiterten Komponierens für eine sozial relevante und aktuelle ›Realwelt-Musik‹ liege, wie sie ihr vorschwebt. Geplant ist, diese zwei methodischen Schritte zu absolvieren: die Erstellung einer parametrischen Landkarte und modularer Konfigurationen. Die parametrische Landkarte könne als Werkzeugkiste dienen. Zunächst werden die Komponenten der Kunsterfindung getrennt. Wenn für einzelne Komponenten wesentliche Muster herausgefiltert wurden, lassen sie sich sequenzieren, und ihnen können nun spezifische Funktionen zugeschrieben werden. Eine zweite Werkzeugkiste ist die Gruppierung der Konglomerate. Solche Gruppierungen könnten übergeordnete Funktionen erfüllen. Jenseits des Zünftigen böten die beiden Werkzeugkisten methodische Hilfen bei der Erweiterung des Kompositionsbegriffs. Sie plane,
[…] to develop two methodological tools - a ›parametric map‹ and a ›modular configurator‹. A parametric map is conceived as a tool based on segregating components according to their most substantial features (parametrisation) and dividing them into units of sequences that perform a specific task (division into sub-functions). The main idea of the second tool – a modular configurator – is to group the parameters and sub-functions in modules: units of sequences that perform higher-order functions. In praxis, both tools should serve as methodological assistance in compositional processes in an expanded field.[23]
Szmytkas bisherige, noch in der Testphase befindliche Gruppierungen sind, soweit sie mir bekannt wurden, radikal-elementar und zugleich sehr individuell: Sie bestehen in Videoclips von wenigen Sekunden, kombiniert mit absichtsvoll unterkomplexen Geräuschen oder Tongemischen. Durch Ausprobieren sucht Szmytka nach Prinzipien des Zusammenfügens optischer, akustischer und quasi-theatraler Phänomene und nach deren Wirkungen. Sie untersucht, was die Kombination eines Elements mit anderen auslöst. Ein Beispiel für ihre bewegten hör- und sichtbaren Snapshots präsentierte Szmytka beim ARC-Laboratorium im Juni 2022.[24]
Es wird eine soziologisch-kulturphilosophische Einleitung zu dem Projekt geben (im Wesentlichen von Zembylas betreut), einen künstlerisch-praktischen Hauptteil zum erweiterten Komponieren – erweitert um Elemente aus Bildender Kunst und Theater –, wo Schubert beratend zur Seite stehen wird, und schließlich so etwas wie eine Lehre medial erweiterten Komponierens. Da Kompositionslehren gewöhnlich von Leuten verfasst wurden, die man heute als Musiktheoretiker bezeichnet, hat man für diesen Teil von Szmytkas Arbeit an mich gedacht (wiewohl mir das Schreiben eines Lehrwerks bisher noch nicht in den Sinn kam). Als Modell für ihr Lehrwerk des erweiterten Komponierens denkt Szmytka weniger an Harmonie- oder Kontrapunkt- als an Instrumentationslehren. Im Unterschied zu jenen haben diese kaum Züge von Dogmatiken (im juristischen Sinne, also von Lehrbüchern, in denen ein in sich funktionierendes und möglichst stimmiges Denkgebäude ausgearbeitet wird). In Instrumentationslehren werden oft nur tausend »Fälle« diskutiert; sie bestehen aus kommentierten Notenbeispielen, abgehandelt in einer Systematik von Besetzungsarten und Satzfunktionen. Beispiele, also »Fälle«, ersetzen Prinzipien. In unseren ersten Besprechungen empfahl ich Szmytka, ihr Lehrwerk des erweiterten Komponierens in der Lehrpraxis zu erproben. Kurzfristig ergab sich die Möglichkeit, zum Sommersemester 2022 an der Mainzer Musikhochschule als Vertretung einer Vakanz einzuspringen. Mein Ratschlag, den Lehrwerkteil ihrer Dissertation auszuprobieren oder ihn sogar aus ihr hervorgehen zu lassen (Schönberg Glauben schenkend, er habe die Harmonielehre von seinen Schülern gelernt), bedeutete für Szmytka, dass ihr Seminarplan auf die Hauptfächer der Studierenden ihres Kurses abzustimmen war, denn diese studieren nicht Komposition, sondern ein instrumentales Hauptfach, sodass Fragen der Interpretation ins Zentrum traten. Szmytka wendete den Plan nun so: Wie lehrt man Instrumentalist*innen den Umgang mit Vorlagen, bei denen bildnerische oder theatrale Elemente eingeschlossen sind wie bei graphisch notierten Stücken, bei Stücken mit Video oder bei solchen, in denen sie als Schauspieler*innen zu agieren haben? Szmytka will zugleich lehren – ein ursprünglich nicht inkludiertes Ziel –, wie man als Instrumentalist*in zur Co-Autorin oder zum Co-Autor wird.[25] Das kommt einem Movens des Wiener Artistic-Research-Konzepts entgegen: an die Stelle der Idee vom einsamen Schöpfertum Kollektiv-Produkte treten zu lassen. Die Vorstellung ist, dass es aktuellen künstlerischen Arbeiten guttut, wenn ihr*e Urheber*in keine Einzelperson ist und es stattdessen zu fluiden und multiplen Autor*innenschaften kommt. Anders als beim traditionellen Meisterklassenstudium treffen sich die Wiener Artistic-Research-Doktorand*innen daher pro Semester für mehrere Intensivtage, die Austausch nicht nur ermöglichen, sondern einfordern. Ähnliches gilt für die Betreuung, die nicht mehr in einer Hand liegt. Die Gefahr, dass Betreuer*innen zu viel dreinreden und einander widersprechen, sodass Sperriges und Innovatives abgeschliffen und fad werden, lässt sich schwer vermeiden. Vielleicht hilft der Vorsatz: Die Peers drängen nicht darauf, dass man es allen recht macht.
Fall 3. Illia Razumeiko alias Elias Spricht
Der Komponist und Performer Razumeiko (*1989) promoviert ebenfalls an der mdw, er ist nunmehr (Mai 2022) im zweiten Studienjahr. Seine Dissertation mit dem provisorischen Titel In reSearch of a Lost Gesamtkunstwerk dreht sich um im Team erstellte Opern, synthetische Genres, neue Gesamt- und Kollektivkunstwerke. Mit dem Komponisten Roman Grygoriv gründete Razumeiko 2015 ein »Opera Nova« genanntes Laboratorium der zeitgenössischen Oper in der Ukraine.[26] Es dient als Plattform für theatrale Produktionen eines Kollektivs ukrainischer Künstler*innen, 2014 von dem Regisseur Vlad Troisky ins Leben gerufen.[27] 2020 bildete sich ein neues Kollektiv, das unter dem nunmehrigen Label »Opera Aperta« ein Laboratorium ins Leben rief. Aktuell hat es ein Repertoire aus mehreren Opern, die jeweils eigene Sub-Genres ausprägen: eine archäologische Oper, ein Opern-Requiem, eine Opera Lingua, eine futuristische Oper, eine Opern-Dystopie, einen Opern-Zirkus, ein Opern-Ballett, ein Dramma per musica sowie eine Traum- und eine Trap-Oper.[28] Ich bin nicht Betreuerin von Razumeikos Promotionsprojekt, habe aber seine Ende 2019 eingereichte Diplomarbeit[29] betreut, die als Vorbereitung auf das Promotionsprojekt thematisierte, was »offene Oper« heißen könne, und zwar anhand der Norwegian Opra von Trond Reinholdtsen, einer glokalen Produktion, die lokale Traditionen ausstellt und zugleich überall dort auf der Welt zugänglich ist, wo YouTube nicht gesperrt ist. An sie knüpft Razumeiko mit seinem Work-in-Progress an. Weit hinausgehend über das, was für Opern typisch ist, schon weil das Libretto meist nicht vom Komponisten stammt, sucht er die Kollaboration. Für die Projekte, die Razumeiko erfindet, arbeitet er bis in die Aufführungen hinein mit einem weiteren Komponisten (Roman Grygoriv), einer Kostümbildnerin, den Performer*innen, zu denen meist er selber zählt, Filmer*innen, je nach Sub-Genre einer Choreographin etc. als Ko-Autor*innen zusammen. Die Rollen des Librettisten und des Regisseurs trennen Razumeiko und Grygoriv gewöhnlich nicht von ihrer Rolle als Komponisten ab.
Den Anstoß für die Gründung einer eigenen Operntruppe gab Razumeiko die Beobachtung, dass von öffentlicher Hand geförderte Opernhäuser und Opernfestivals (die »monströse Struktur des Staatstheaters«[30]) ganze Generationen jüngerer bis mittelalter Komponist*innen ignorierten und ihnen (abgesehen von einigen wenigen Komponist*innen-Stars) keine Chance gäben, musiktheatrale Erfahrung zu gewinnen. Wo Komponist*innen im modernen Musiktheater dennoch zum Zuge kämen, seien sie oft nur Sound-Designer, welche die Visionen von Regisseur*innen und Librettist*innen erfüllten, während Musik und deren Aufführung keine wesentliche Rolle mehr spielten. Verschärft werde die Lage dadurch, dass sich die akademische Ausbildung von Kompositionsstudierenden zuallermeist auf »reine Musik« konzentriere, Komponieren werde – dem traditionellen Verständnis folgend – nur als Arbeit am Klangmaterial verstanden. Razumeiko möchte nach langen Jahren einer »diktatorischen Regieoper und Literaturoper«[31] jetzt Arten von Gesamt- und Gemeinschaftskunstwerken wieder- und neuerschaffen, in denen Musik die Aufführungsstruktur generiere und für die Multidisziplinarität zentral sei, wobei Live-Performance und radikale Körperlichkeit von neuen Medien niemals ausgelöscht werden. Das übliche Verständnis von Internationalität und von Professionalität sieht Razumeiko kritisch und stellt diesem seinen Zugriff auf Lokales entgegen, womit sein Projekt auch ethnomusikologische Forschung beinhaltet. Die Produktionen der Nova-Opera-Truppe werden in der gegenwärtigen Situation zu einer politischen Kunst, welche die Mauer zwischen professioneller und dilettantischer Aktivität in der Oper schleift, um stattdessen auszustellen, woher sie kommt. Meine Rolle war, Razumeiko bei der Erforschung der Vorgeschichte seines Vorhabens Tipps zu geben. Bei seiner Konzentration auf Reinholdtsen fand er Fäden, die sich weiterspinnen ließen. Kein Rundumschlag, kein Geschichts-Cut. Einen Eindruck vom Stand seiner Forschungen im Juni 2022 vermittelt der Mitschnitt von Razumeikos Präsentation beim ARC-Laboratorium, zugänglich über YouTube.[32]
Wie alle Männer zwischen 18 und 60 Jahren darf Razumeiko die Ukraine nur mit Sondergenehmigung verlassen. Im Mai 2022 machte er mit dem Nova-Opera-Kollektiv eine Tour: über Wien nach Rotterdam und über Wien zurück nach Kiew. Hoffe, dass er die aktuelle Lage übersteht!
Anmerkungen
Die Verfasserin dankt Jagoda Szmytka und Illia Razumeiko für die Genehmigung, in diesem Beitrag auch aus unveröffentlichten Materialien zitieren und auf bisher öffentlich nur beschränkt zugängliche Arbeiten von ihnen verlinken zu dürfen. Bert Mooiman unterstützte mich freundlicherweise bei der Beschreibung institutioneller Details niederländischer Promotionsverfahren. Annegret Huber und Johannes Kretz haben diesen Text im Hinblick auf die Darstellung des Artistic-Research-Profils der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien (mdw) kritisch gegengelesen, wofür ich ihnen herzlich danke. | |
Ein aktuelles Kurzporträt Mooimans findet sich auf YouTube: https://www.youtube.com/watch?v=srXVwkx8bwE (30.11.2022); zu seiner Dissertation äußert er sich ab Minute 7:08. Freigeschaltet am 13.5.2022. | |
Siehe die entsprechende Annonce: https://www.universiteitleiden.nl/nieuws/2014/01/bert-mooiman-ontvangt-nwo-promotiebeurs (30.11.2022). | |
Siehe die Website der ACPA: https://www.universiteitleiden.nl/geesteswetenschappen/academie-der-kunsten (30.11.2022). | |
Website des Programms: http://www.docartes.be/nl (30.11.2022). | |
URL der Dissertation: https://hdl.handle.net/1887/3247235 (30.11.2022; zugänglich seit dem 14.6.2022). | |
Aus einer Mail Mooimans an die Verfasserin vom 8.7.2022. | |
Siehe die Übersicht über Cobussens Publikationen auf seiner ACPA-Personalseite: https://www.universiteitleiden.nl/medewerkers/marcel-cobussen/publicaties - tab-4 (30.11.2022). | |
Website Hans Fidom an der Vrije Universiteit Amsterdam: https://research.vu.nl/en/persons/hans-fidom (30.11.2022). | |
Seine Webseite: https://www.conservatoriumvanamsterdam.nl/en/study/studying-at-the-cva/faculty/classical-music/michielschuijer-1/ (30.11.2022). | |
Personalseite Roger Graybill am New England Conservatory: https://necmusic.edu/faculty/roger-graybill (30.11.2022). | |
Personalseite Casper de Jonge an der Universiteit Leiden: https://www.universiteitleiden.nl/medewerkers/casper-de-jonge/publicaties#tab-1 und Jaap de Jong https://www.universiteitleiden.nl/medewerkers/1/jaap-de-jong/publicaties#tab-4 (30.11.2022). | |
Personalseite Jed Wentz an der Universiteit Leiden: https://www.universiteitleiden.nl/en/staffmembers/jed-wentz/publications#tab-4 sowie Anna Scott: https://www.universiteitleiden.nl/en/staffmembers/anna-scott/publications#tab-3 (30.11.2022). | |
Personalseite Henk Borgdorff an der Universiteit Leiden: https://www.universiteitleiden.nl/medewerkers/henk-borgdorff/publicaties#tab-4 (30.11.2022). Borgdorf war 2015–19 Präsident der Society for Artistic Research (SAR) und bis 2015 Herausgeber ihres Journal for Artistic Research (JAR). | |
Siehe die Ankündigung des Konzerts auf der Website der Universiteit Leiden: https://www.universiteitleiden.nl/en/events/2021/12/concert-bert-mooiman (30.11.2022). | |
Reicha 1832, dort im Kapitel »Von den Formen oder Rahmen der Tonwerke, welche der Entwicklung der Ideen am günstigsten sind«, 1159. | |
Promotionen der Universiteit Leiden lassen sich im Livestream verfolgen: https://www.universiteitleiden.nl/wetenschappers/livestream-promotie (30.11.2022). | |
Infos zu Kretz und Zembylas: https://www.mdw.ac.at/ar_center/team-kretz/; https://www.mdw.ac.at/ar_center/team-zembylas/. Zu Schubert von der Universität für angewandte Kunst Wien: https://digitalekunst.ac.at/schauraum/franz-schubert (30.11.2022). | |
Lehmann 2012. | |
Siehe den zu ihren Ambitionen passenden Text von Ciciliani 2016. | |
Aus einer Mail Szmytkas an die Verfasserin vom 30.9.2021. | |
Ebd. | |
Ebd. | |
Es ist über YouTube zugänglich unter: https://youtu.be/1HwhuUlBIWY (30.11.2022). | |
Hilfreich waren hier u. a. Überlegungen, die sich in dem aus einem Symposium an der Paul Sacher Stiftung Basel vom 27.–29. April 2011 hervorgegangenen Band von Danuser/Kassel 2017 finden. | |
Siehe die Website von Roman Grygoriv und Illia Razumeiko: https://grygoriv-razumeiko.com/ - about (30.11.2022). | |
Siehe Webseite des Kollektivs: http://novaopera.com.ua/about/ (30.11.2022). | |
Der Zugang zu einigen Produktionen von »Opera Aperta« ist über YouTube gegeben: https://www.youtube.com/c/OPERAAPERTA (30.11.2022). | |
Razumeiko o. J. | |
Razumeiko, Exposé des Promotionsvorhabens (unveröffentlicht). | |
Ebd. | |
https://youtu.be/MRoPf_DVjLE (30.11.2022). |
Literatur
Ciciliani, Marko (2016), »Music in the Expanded Field. On Recent Approaches to Interdisciplinary Composition«, in: Darmstädter Beiträge zur Neuen Musik, Bd. 24, hg. von Michael Rebhahn und Thomas Schäfer, Mainz: Schott, 23–35.
Danuser, Hermann / Matthias Kassel (Hg.) (2017), Wessen Klänge? Über Autorschaft in neuer Musik, Mainz: Schott.
Lehmann, Harry (2012), Die digitale Revolution der Musik. Eine Musikphilosophie, Mainz: Schott.
Razumeiko, Illia (o. J.), Musik, Drama und YouTube. Untersuchungen zur Norwegian Opra von Trond Reinholdtsen, Diplomarbeit, Universität für Musik und darstellende Kunst Wien. https://rb.gy/hiauub (30.11.2022)
Reicha, Antoine (1832), Reicha’s Compositionslehre. Vierter Band, enthaltend den 8ten 9ten und 10ten Theil, übers. von Carl Czerny, Wien: Diabelli und Comp.
Hochschule für Musik und Theater ›Felix Mendelssohn Bartholdy‹ Leipzig [University of Music and Theatre ›Felix Mendelssohn Bartholdy‹ Leipzig ]
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