Marcus Aydintan / Laura Krämer / Tanja Spatz (Hg.), Solmisation, Improvisation, Generalbass. Historische Lehrmethoden für das heutige Musiklernen, Hildesheim: Olms 2021
Lutz Felbick
Sie seien elendige Quacksalber, Betrüger und Prahler! Musiker, die nicht improvisieren können und lediglich Noten anderer Meister einstudieren und abspielen, würden die Hörerschaft bezüglich ihrer angeblich vorhandenen musikalischen Kompetenz hinter das Licht führen.[1]
Historisch Informierte wissen, dass Andreas Werckmeister und Johann Kuhnau sich erdreisteten, ihren Zeitgenossen mit derartig harschen Worten die Leviten zu lesen.[2] Der Thomaskantor Kuhnau konkretisiert seinen Quacksalber-Vorwurf, denn Musiker, die nicht in der Lage seien, eine Sonate zu improvisieren, »sind und bleiben Stümper«.[3] Heute ist man einerseits über die Bedeutung des Extempore-Spiels und das sehr hohe Niveau des damaligen Musikdenkens informiert. Im Unterrichtsalltag machen aber manche Dozent*innen die Erfahrung, dass die Musikhochschulen »hochspezialisierte Leute für das Orchester ausbilden, die aber teilweise musikalische Analphabeten sind«.[4] Das ist gegenüber den von Kuhnau erwarteten Kompetenzen eine deutlich steilere These.
In dieser harten Form erscheint diese bittere Bestandsaufnahme nicht in dem 2021 im Olms-Verlag erschienenen Buch Solmisation, Improvisation, Generalbass. Historische Lehrmethoden für das heutige Musiklernen. Aber in der ersten Anmerkung wird indirekt auf diese Äußerung Ludwig Holtmeiers (9) verwiesen. Ähnlich wird auch Nikolaus Harnoncourt zitiert, der von der »fatalen Situation« des Musiklebens spricht (16). Wenn beispielsweise ausgerechnet ein Musikhochschullehrer für das Fach Liedbegleitung in Schwierigkeiten kommt, das in einer Zufallstonart angestimmte Happy Birthday nach Gehör zu begleiten, ist der Begriff des musikalischen Analphabetismus im Sinne einer fehlenden Liedbegleitungskompetenz nachvollziehbar.[5] In einem ähnlichen Sinne wird der Begriff Alphabetisierung nachfolgend benutzt.
Der äußere Anlass des Buchprojektes war die 2015 erfolgte Gründung des Netzwerks Musiktheorie verbindet an der Hannoverschen Hochschule für Musik, Theater und Medien. Laura Krämer berichtet als Initiatorin über das dortige Forschungs- und Fortbildungsprojekt »Solmisation, Improvisation, Partimento« (164–169). Neben Krämer erscheinen Marcus Aydintan und Tanja Spatz als Herausgeber*innen. In den im Rahmen dieses Projektes 2016–2019 durchgeführten Workshops und Tagungen dokumentierten die Referent*innen ihre Arbeit und verfolgen als Autor*innen mit dem Buch das Ziel, »einige Ergebnisse einem noch breiteren Publikum zugänglich zu machen« (168). Die Reihenfolge der 13 Beiträge auf den insgesamt 212 Seiten ist dem Lebenslauf eines musikalischen Lernens nachempfunden, vom Kinderchor bis zur Hochschule (7). Vorab erstellt Juliane Brandes »Baupläne zum Lückenfüllen – der Elfenbeinturm im Klassenzimmer und wie man ihn verpflanzt« (9–24). Diese Lücken sieht sie in ihrem kritischen Erfahrungsbericht zwischen dem gesamten Bereich der außerhochschulischen Bildung (»Klassenzimmer«) und der Hochschulpädagogik (»Elfenbeinturm«). Bei den Aufnahmeprüfungen würden vielfach die mangelnden Kompetenzen sichtbar (10). Eine »musikalische Bildung […] im Sinne einer ganzheitlichen Alphabetisierung« (13) finde vor dem Studium nicht im erforderlichen Maße statt. Mit den Begriffen ›allgemeine Musiklehre‹ und ›Musiktheorie‹ werde leider meist ein »sinnentleertes Buchstabieren und Rechnen verbunden« und es ließe sich schwer erschließen, warum eine solche »Nonsens-Alphabetisierung« überhaupt stattfinde (14 f.). Es habe sich gezeigt, dass die frustrierten Musiklehrenden sich vielfach nur zu helfen wüssten, indem sie »Nebenschauplätze wie musikgeschichtliche Daten, Inhaltsangaben oder Faktenwissen« vermittelten (13). In keinem anderen akademischen Fach gebe es eine so große Kluft zwischen Schule und Hochschule. In den Aufnahmeprüfungen, insbesondere im Fach Gehörbildung zeige sich, dass sehr oft ein »eigenständiges musikalisches Sprachvermögen fehlt« (15). Obwohl die Hochschulen diese teilweise grotesken Defizite erkennen, nähmen sie dennoch vielfach diese Bewerber*innen auf. Aus dieser ersten großen Lücke resultiere dann die zweite große Lücke, denn nach Abschluss des Studiums sei das Defizit keinesfalls behoben und so wären künftige Musikpädagog*innen nicht in der Lage, den musikalischen Nachwuchs adäquat auszubilden. So wiederhole sich die musikalische »Nonsens-Alphabetisierung« in der künftigen Musikpädagogik. Nach diesem ernüchternden Erfahrungsbericht, der hier nur umrissen werden kann, stellt Brandes einen umfangreichen Maßnahmenkatalog vor, der dazu beitragen soll, den Teufelskreislauf zu durchbrechen (20–23).
Der Beitrag von Friederike Stahmer »Musiklehre im Kinderchor in Anlehnung an die Music Learning Theory« (25–31) basiert auf den musikpädagogischen Prinzipien Edwin E. Gordons. Da nach Gordon das Musiklernen mit dem ersten Spracherwerb vergleichbar ist, steht das Hören am Anfang allen musikalischen Lernens, denn »durch die regelmäßige Arbeit mit tonalen und rhythmischen Patterns werden musikalische Ordnungsprinzipien im Gehirn verankert.« (26) Die von Hugo Riemann bereits so betitelte Lehre von den »Tonvorstellungen« (31) wird durch die hier aufgeführten rhythmischen und melodischen Patterns konkretisiert.[6] Mit Hilfe der relativen Solmisation und der Funktionstheorie werden weiterhin elementare harmonische Patterns gelernt.
Olga Tchipanina erstellte ihren Gehörbildungsbeitrag »Unterrichtskonzept für allgemeine Musiklehre und Gehörbildung im VIFF Hannover«[7] (32–43) vor dem Hintergrund ihrer über 40-jährigen Berufserfahrung. Ihre Methode sei »stark von der streng systematisierten russischen Schule der Musiktheorie geprägt« (32). Die Unterscheidung zwischen stabilen und instabilen Tonstufen ist für diese Schule typisch. Die Erfahrung zeigt, dass insbesondere beim Prima-Vista-Singen die melodischen Sprünge von stabilen zu instabilen Tonstufen für Anfänger*innen eine große Herausforderung darstellen. Die Verwendung von Stufenzahlen war im 18. und 19. Jahrhundert vielfach gebräuchlich und wird auch in diesem Beitrag als Methode der relativen Notation favorisiert.[8] Die Arbeitseinheiten beinhalten auch Intonationsübungen, eine spezielle Form der Höranalyse sowie Komposition und Improvisation (33). Bei den Literaturangaben finden sich ausschließlich fünf unveröffentlichte Übungshefte der Autorin.
Im Gegensatz zu diesem sehr praxisorientierten Beitrag folgt nun ein zunächst musikwissenschaftlich angelegter Text »Hexachord-Solmisation und Vokalimprovisation – Überblick, Nutzen, Anwendung« (44–60) von Laura Krämer. Die ersten zehn Seiten liefern wichtige Basisinformationen zur Hexachord-Solmisation und zur Guidonischen Hand. Die Autorin ist sich dessen bewusst, dass die Einarbeitung in das musikalische Denken des 15. und 16. Jahrhunderts mit einem enormen Zeitaufwand verbunden ist. Sie stellt anschließend die drei Bereiche cantare super librum, Kanonimprovisation und Diminution an praktischen Beispielen vor. Es erfordere zwar einige Übung, vierstimmig super librum zu singen, aber es sei faszinierend, wenn es glückt (57). Trotz dieser optimistisch stimmenden Bemerkung darf nicht vergessen werden, dass es vermutlich einer mindestens zehnjährigen, täglichen und umfangreichen Praxis bedarf, um diese Techniken so zu verinnerlichen, dass dieses heute so fremde Musikdenken zu einer musikalischen Selbstverständlichkeit wird. Im Alltag des Hochschulbetriebes ist dies nicht zu leisten. Dennoch muss sich die Musiktheorie derartigen Herausforderungen stellen. Vielleicht kann ein gelegentliches Scheitern von hoch gesteckten Zielen zu der Erkenntnis führen, dass einem gänzlich fremden Musikdenken mit großem Respekt begegnet werden muss. So ist zu begrüßen, dass es beispielsweise in Basel, in Hannover und in den USA derartige Angebote gibt.
Noch ehrgeiziger ist der Ansatz von Almut Gatz. Die Autorin betont in ihrem Beitrag »Konzept, Historische Vokalimprovisation in der Schule. Vorüberlegungen und Projektbericht« (61–76), dieses über drei Tage angelegte Projekt hätte »unter besonders günstigen Rahmenbedingungen« (75) stattgefunden, denn die Arbeit erfolgte »mit einem geübten Mädchenchor, der schon einige Renaissancestücke im Repertoire hatte« (67). Die Vorüberlegungen, die pädagogische Arbeit und das diesbezügliche Feedback stellt sie ausführlich dar. Sie möchte »ermutigen, ähnliche Projekte öfter zu wagen und damit die häufig eingeforderte Verschränkung von Theorie und Praxis gerade im schulischen Musikunterricht voranzutreiben« (76). Die Autorin weist darauf hin, improvisatorisches Musizieren im Ensemble müsse keineswegs auf historische Stilistiken beschränkt bleiben (75). Die hier vorgestellte Methode sei exemplarisch für eine sehr exklusive Zielgruppe zu verstehen und müsse in anderen Fällen der jeweiligen Unterrichtssituation angepasst werden. Schließlich müssten der Spaßfaktor erhalten bleiben und Frustrationen vermieden werden (68). Aber immerhin hätten neun von 20 Teilnehmerinnen im Feedbackbogen geäußert, sie hätten Lust, sich auch weiterhin mit vokalen Improvisationstechniken zu befassen.
Einen ebenfalls vokalen Ansatz verfolgt Valerie Schnitzer und führt »Eine Bestandsaufnahme zum Unterrichtsmodell der Gesangsklassen« durch (77–83). Sie betitelt ihren Text mit dem banal scheinenden Satz »Wer Musik verstehen will, muss sie zuerst selber machen«. So selbstverständlich ist diese Forderung aber keineswegs, denn wie Derek Bailey kritisch anmerkt, erwartet man von Musiker*innen heute normalerweise nicht mehr, dass sie selber Musik machen.[9] Schnitzer hat nach dem Vorbild der amerikanischen Highschools vor mehr als zwei Jahrzehnten am Dietrich-Bonhoeffer-Gymnasium im nordbadischen Eppelheim Gesangsklassen eingerichtet und damit einen die deutsche Musikpädagogik nachhaltig prägenden Lehransatz begründet. Charakteristisch für diese Methode ist das musikalische Lernen in seiner Sprachlern-Analogie (78). So werden zugleich Stimme, Gehör und Musikalität gefördert. Schnitzer resümiert, das Experiment Gesangsklasse sei mehr als ein Erfolg geworden, denn es habe das Singen in die Schulen und in die Musikpädagogik zurückgebracht (79). Schnitzer weicht dem Problem der Omnipräsenz der digitalen Medien nicht aus und schlägt vor, sie zu integrieren, statt sie zu verurteilen (80). »An und mit der Stimme, über das musikalische Machen kann jene musikalisierende oder – um in Analogie zum Sprachlernprozess zu bleiben – alphabetisierende Kompetenzentwicklung der musikalischen Sinne (Hören und Musizieren) gelingen.« (81) Gehörbildung und Musiktheorie wurden nur dann integriert, wenn diese Kompetenzen dem Musizieren dienlich sind. Die relative Solmisation betrachtet Schnitzer als das Wesentliche (82). Der musikpädagogische Ansatz Schnitzers ist in sechs Veröffentlichungen mit dem Titel Singen ist klasse (2008–2013) dokumentiert. Das von Brandes eingangs benannte Problem, die Alphabetisierung müsse im Klassenraum befördert werden, scheint hier in vollem Umfang gelungen zu sein, denn es habe steil ansteigende Motivationskurven bei den Schüler*innen, kaum erträumbare Leistungszuwächse und Nachfragebooms in den vokalen Ensembles der Schule gegeben. Demgegenüber ›geißelt‹ Schnitzer unter Berufung auf eine von ihr gehörte Vorlesung von Hans Heinrich Eggebrecht eine Musikpädagogik, die auf dem »fatale[n] Missverständnis eines wissenschaftsorientierten Musikunterrichts« basiert und für die Lernenden jenseits ihrer musikalischen Erlebniswelt angesiedelt ist (83).
In dieser Gefahr steht möglicherweise der folgende Beitrag »Improvisieren wie Diego Ortiz« von Michael Spiecker (84–107). Einerseits fasst er dessen Improvisationstechniken gemäß des 1553 in Neapel verfassten Trattado de glosas hervorragend zusammen. Es solle das Ziel sein, dieses Vokabular so zu verinnerlichen, dass man es natürlich und spontan anwenden kann. Auch er betont, der Vorgang sei dem Erlernen des Vokabulars einer Sprache vergleichbar (107). Andererseits vermisst man Hinweise auf die Voraussetzungen eines solchen Musikdenkens, die zweifellos in einer reichen Vokalpraxis und einer Selbstverständlichkeit der eigenen Musikproduktion im Kontext eines primär oralen Kulturverständnisses liegen. So entsteht der Eindruck, als sei eine praktische Einführung in die Klangsprache dieser Zeit ausschließlich mithilfe der Methoden einer musikwissenschaftlich orientierten Schriftkultur möglich. Spiecker beherrscht diese Kunst persönlich zweifellos, zumal er mit seinen Improvisationen konzertant auftritt, aber man hätte sich wie bei Schnitzer Informationen über Unterrichtserfahrungen gewünscht, denn diese fehlen völlig.
Sehr zutreffend betont Laura Krämer in ihren Ausführungen zu »Musik im Griff – Generalbass als Universalinstrument der Musik(theorie)pädagogik« (108–134) einen wichtigen Grundsatz ihres Ansatzes: »Das Lesen, Hören und Greifen ist ein Verstehendes, das Verstehen eines des inneren Ohres und des Fingergedächtnisses.« (108) Krämer gelingt eine hervorragende Einführung in die funktionalen Skalenstufen (Oktavregel), die die Autorin als eine praxisorientierte Lehre der tonalen Harmonik inklusive von Kadenzen und sonstigen Modellen darzustellen weiß. Als Beispiel für das Musiklernen mit Partimenti erläutert sie das dritte Partimento aus Fedele Fenarolis Regole, 1775 in Neapel erschienen (117–122). Ausgehend von Emanuel Aloys Försters grundlegenden Werken zur Generalbasslehre[10] analysiert die Autorin anschließend sehr überzeugend die Harmonik von Ausschnitten aus Beethovens Klaviersonate G-Dur op. 31/1 und Schuberts Zügenglöcklein D 871. Schrittweise werden jeweils die an der Oktavregel orientierten Harmoniemodelle und die daraus entwickelte Figuration und Melodik gezeigt.
Innerhalb der Hochschullandschaft werden die Schola Cantorum Basiliensis und die Musikhochschule Freiburg bezüglich der Generalbass-Ausbildung als vorbildlich genannt. Aber eine breitere Nutzung der pädagogischen Potenziale des Generalbasses im vor-hochschulischen Bereich sei wünschenswert und erfolgversprechend (109). Für die eigene kreative Betätigung in Form von Improvisation und Komposition müsse es eine effektivere Musikausbildung geben und dazu sei der Generalbass ein vielversprechender Ansatz. Sobald die notwendigen pianistischen Fähigkeiten erreicht seien, müsse der an den Hochschulen für Nicht-Pianisten erteilte Klavierunterricht im Sinne der Generalbass-Ausbildung auf ein angewandtes Klavierspiel umgestellt werden (110). Dem ist uneingeschränkt zuzustimmen. Als Zielgruppe dieses Textes denkt die Autorin an eine Leserschaft, die ein elementares Grundverständnis für das Generalbassspiel bereits mitbringt. Viele Musikpädagog*innen werden mit dem hohen Niveau des hier demonstrierten musiktheoretischen Denkens derzeit überfordert sein. Aber das Erreichen eines derartigen Zieles wäre langfristig wünschenswert.
An einem ausführlich dargestellten Unterrichtsbeispiel stellt Martine Streib ihren »Gehörbildungsunterricht in der Hochschule auf Basis der relativen Solmisation« (135–143) dar. Die Voraussetzungen für dieses Würzburger Konzept sind optimal. Die wöchentliche Doppelstunde ist auf drei Jahre hin angelegt. Neben einem Flügel stehen E-Pianos in ausreichender Anzahl für die vier bis acht Studierenden zur Verfügung. Die ohnehin für eine reguläre Hochschularbeit vorbildliche Ausgangssituation wird durch regelmäßige Übungsaufgaben, die der Nachbearbeitung und der Vorbereitung für die Weiterarbeit dienen, noch idealer (135). Die Silben werden nach der Kodály-Methode gewählt, wobei sie in der Diatonik im Regelfall nur mit Konsonanten dargestellt werden.[11] Diese Konsonanten werden bei Hochalteration mit einem nachgestellten Vokal i und bei Tiefalteration mit einem nachgestellten a ergänzt (136).[12] Ausgangsbasis ist zunächst die Pentatonik, die dann zur Diatonik erweitert wird. Die zum Einsatz kommenden Silben sind abhängig vom jeweils zeit- und stiltypischen Tonvorrat, der sich bis zur komplexen Enharmonik der Romantik erweitert. Diese Methode lernte die Autorin als Teilnehmerin des academic year am Kodály-Institut in Ungarn kennen.
Die detailliert von der Autorin dargestellte Doppelstunde (136–143) beginnt zunächst mit zahlreichen Übungen zur Pentatonik, die auch sechsstimmige Cluster beinhalten. Es folgt die Arbeit mit Akkorden, wobei Hinzufügungen zur Vierklangbasis Dur / kleine Septim zum Unterrichtsgegenstand werden. In der dritten Phase wird ein Höranalysekonzept zum ersten Satz von Čajkovskijs sechster Sinfonie vorgestellt. Außer den eigentlichen und zahlreich demonstrierten Analyseaufgaben wird das flexible Lesen in verschiedenen Schlüsseln und die Notation transponierender Instrumente geübt. Der Lückentext eines Partiturausschnitts dient als Arbeitsblatt. Im Mittelpunkt steht das singende Benennen von musikalischen Gegebenheiten und Zusammenhängen, also das aktive Tun ohne viele Worte. Ziel dieser Gehörbildung sei ein bewusstes, beziehungsweise ›wissendes‹ Hören. Allerdings dürften die Trainingseinheiten nie als Selbstzweck betrieben werden, sondern sollten von Anfang an immer in Beziehung zur komponierten Musik erlebt werden (143). Ein derart vorbildlich angelegtes Unterrichtskonzept erfordert ein Höchstmaß an zeitaufwendiger Vorbereitung für die Lehrenden. In drei Jahren werden etwa 90 derartige Konzepte erforderlich sein und bei der angestrebten Flexibilität der Methode ist dies vermutlich nur in einer hauptberuflichen Tätigkeit zu leisten.
In seinem Beitrag »Let’s move it. Moveable-Do« (144–151) führt Raphael D. Thöne in die Grundlagen des Ear-Training-Approaches am Berklee College of Music Boston ein. Er berichtet über die Einbindung dieses Ansatzes in die aktuelle Lehre der Jazz-/Rock-/Pop-Studiengänge an der Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover. Die von Steve Prosser entwickelte Methode basiert auf den vier Übungstypen a) Rhythmic Studies, b) Sight Recognition (Pitch) Studies, c) Sol-Fa Studies und d) Melodic Studies.[13] Nach einem vierjährigen Einsatz dieser Methode sei in Hannover bei einer internen Evaluation nachgewiesen worden, dass sich die Studienergebnisse »merklich gebessert« hätten (149). Eher beiläufig wird man gewahr, dass die Silbe Do in diesen Sol-Fa Studies grundsätzlich für die erste Stufe einer Skala verwendet wird und deshalb die phrygische Sekunde mit der Silbe Ra (verstanden als tiefalterierte 2. Stufe Re) bezeichnet wird (150). Diese vom Rezensenten begrüßte Auffassung wird viele Vertreter*innen der relativen Solmisation in Deutschland zum heftigen Widerspruch veranlassen. Es ist aber angesichts dieser ganz verschiedenen Methoden eine Grundsatzdiskussion wenig sinnvoll, welche das jeweilige running system infrage stellt.[14] In der Unterrichtspraxis werden deshalb neben den streng dogmatisch angelegten Solmisationsmethoden auch dynamische Methoden bevorzugt. Der amerikanische Musiktheoretiker Timothy A. Smith empfiehlt beispielsweise beim Unterricht im Blattsingen eine Kombination von verschiedenen Methoden, die er situationsabhängig der jeweiligen Zielgruppe anpasst.[15]
Tanja Spatz berichtet über die Tonic Sol-fa Method von John Curwen (152–163) und verknüpft diese mit harmonischer Analyse. In einem Überblick fasst sie dessen Darstellung zur relativen Solmisation zusammen. Sie stellt drei unterschiedliche Harmoniefolgen vor, an denen Curwen sein System erläutert. Die erste, rein diatonisch angelegte Folge von vier Akkorden lässt sich ohne Erläuterungen vierstimmig mit Hilfe der auf den Anfangsbuchstaben reduzierten Solmisationssilben relativ notieren (155). Die zweite, deutlich komplexere Kadenz enthält aufgrund von zwischendominantischen Beziehungen leiterfremde Töne. Bei diesen minimalen Ausweichungen erweitert Curwen sein System: für Hochalterationen durch einen an den Buchstaben angehängten Vokal e und für Tiefalterationen durch den zusätzlichen Vokal a. So wird aus der Silbe doh die hellere Silbe de und aus der Silbe te die dunklere Silbe ta. Bei »klarem Wechsel des tonalen Bezugsrahmens« (Modulation) benennt Curwen »bridge-notes« (158), z. B. die Funktionsumdeutung der sechsten Stufe mit Anfangskonsonant l (la) zur zweiten Stufe r (re). Dies ist funktionstheoretisch identisch mit der Umdeutung Tp = Sp. Spatz verknüpft Curwens Solmisationssilben mit dem Oktavregelsatz und demonstriert die Möglichkeiten einer harmonischen Analyse an Schuberts Lied Irrlicht. Die Autorin zitiert Curwen, der »lah- und doh-basiertes Moll diskutiert« und gegeneinander abwägt (153). Dessen Argument, alle bisherigen Lehrer seien methodisch immer so verfahren, ist schwach und überzeugt nicht. Die zu fordernde methodische Konsequenz der harmonischen Analyse gelingt in anderen relativen Notationssystemen, wie der Oktavregel, besser. Die Inkonsequenz zeigt sich insbesondere bei einer Modulation in die Mollparallele, z. B. im Irrlicht, Takt 7–12 (157), bei der die Curwen-Methode auf bridge-notes verzichtet, die bei einer Modulation in die Dominante aber benutzt werden. Deshalb wäre kritisch zu fragen, ob ein solcher wenig konsequenter Weg tatsächlich zu einem methodischen Fortschritt führt oder nur eine – lediglich für Expert*innen interessante – historische Gegenüberstellung von guten und weniger guten Analyse-Möglichkeiten ist, die auf der Basis relativer Notationssysteme sinnvoll sein können. Immerhin lassen sich sämtliche relativen Notationssysteme als ein ›Werkzeug harmonischer Analyse‹ nutzen.
Das Solmisationssystem hilft beim Verständnis der Anordnung von Halb- und Ganztönen. Es war ursprünglich als Memorierungssystem für mittelalterliche Einstimmigkeit konzipiert. Inzwischen hat sich das Musikdenken durch die Analyse harmonischer Abläufe erweitert. Dabei bediente man sich verschiedener relativer Notationssysteme. Sofern die relative Solmisation für harmoniebezogenes Musikdenken verwendet werden soll, ist ein do-basiertes Moll sinnvoll. Andernfalls kommt es zu Widersprüchen zwischen dem allgemein üblichen Tonika-Begriff und der Auffassung, der Grundton der Moll-Tonika sei als sechste Stufe (la) der Dur-Tonika zu betrachten. Paul Schenk löste diese Unstimmigkeit der funktionalen Deutung durch die Verwendung von Jale-Silben, bei denen er die erste Stufe einer jeden Tonleiter inklusive der Modi mit der Silbe ja bzw. do bezeichnete.[16] Diese in dem Buch nur flüchtig angesprochene Unstimmigkeit besteht noch in einer anderen Hinsicht. Die Grundannahmen der traditionellen sol-fa- bzw. Tonika-do-Methoden deuten stillschweigend darauf hin, dass die Asymmetrie in der Anordnung der unterschiedlich großen Schritte auch bei der auditiven Wahrnehmung als asymmetrisch empfunden werden müsse. Das ist eine wenig überzeugende und bislang nicht bewiesene These, denn schließlich wird das Singen und Hören einer Tonleiter – aus welchen Gründen auch immer – nicht als eine Stolperschrittfolge von ganzen und halben Schritten erlebt. Da sich sehendes Wahrnehmen deutlich vom hörenden Wahrnehmen unterscheidet, ist eine Unterscheidung der Methoden erforderlich. Jean-Jacques Rousseaus Idee, das Prima-Vista-Singen in den neutral gedachten Tonleiterstufen 1–7 zu lernen, hat sich in der Praxis vielfach bewährt.
Abschließend gibt Laura Krämer eine Gesamtdarstellung des Forschungs- und Fortbildungsprojektes »Solmisation, Improvisation, Partimento« an der HMTM Hannover und Juliane Brandes stellt ihre »Praxisrelevante Bibliographie zur Musiklehre« vor. Das Buch ermöglicht eine wünschenswerte Verbindung von Theorie und Praxis.
Die hier vielfach geäußerte Erkenntnis, die relative Notation sei das wichtigste Instrument für eine musikalische Alphabetisierung, wird in zahlreichen musikpädagogischen Lehrbüchern der internationalen Gehörbildungsliteratur bestätigt.[17] Einige Systeme dieser Notation werden hier vorgestellt, andere werden nicht genannt. Offen bleibt die Klärung, ab wann Lehrmethoden als historisch zu bezeichnen sind. Beispielsweise ist John Mehegans Edition The Jazz Improvisation Series (1960–1964) inzwischen ebenfalls als historisch zu werten. Hier wird gezeigt, in welcher Weise Jazzmusiker*innen ihre Changes in der relativen Notation mit Hilfe der von Gottfried Weber entwickelten Stufentheorie denken. Auch die Funktionstheorie gehört zu den historischen Lehrmethoden. Zwar ist diese Methode komplex und es besteht die Gefahr, dass man sich damit in Abstraktionen verliert, denn sie ist mit sehr viel Lese- und Denkarbeit verbunden. Aber der Funktionstheorie gelingt die notwendige Differenzierung bei hochkomplexen Tonbeziehungen. Anfänger*innen sollte man nicht mit solchen Komplexitäten verwirren. Man wird zustimmen können, dass eine Musikpädagogik anzustreben wäre, die tonale Musik immer erlebbar macht und niemals zur »toten Sprache« eines sinnlosen Formalismus wird (110). Insofern sind zunächst die einfachen Systeme der relativen Notation zu bevorzugen und erst, wenn diese sehr gut beherrscht werden, können entweder weitere Differenzierungen vorgenommen werden oder es kann auf andere Methoden hingewiesen werden. Zwar lassen sich nicht alle Methoden in einem Buch darstellen, aber in einem Ausblick hätte man eine generelle Offenheit gegenüber den sonstigen Lehrmethoden signalisieren können.
Anna Wolf stellt in ihrer Dissertation fest, die oben angesprochene musikalische Alphabetisierung gelinge bei Studierenden des Pop und Jazz signifikant besser als in der klassischen Ausbildung.[18] So wäre der eingangs zitierte Werckmeister von den improvisatorischen Kompetenzen der Jazzmusiker*innen voll begeistert, denn hier ist der Geist der historischen Lehrmethoden im Umgang mit aktueller Musik in vollem Umfang realisiert.
Anmerkungen
Vgl. Werckmeister 1698, 76 f. Die Zuhörer werden »hinter das Licht geführet« (ebd.), da der angebliche Kenner von »Clavier und Composition« (Werckmeister 1702, Titel) nur die musikalischen Gedanken von anderen Komponisten – quasi als Plagiat – nachspielt. | |
Wer Noten (Tabulaturen) von anderen Komponisten abspielt, setze sich dem Verdacht aus, ein Betrüger zu sein (vgl. ebd., 68, § 128). Deswegen sei es nötig, dass man sich »ein wenig vorsehen / und nicht jedem Praler alsobald glauben möchte: Denn viele bilden sich ein / sie wissen schon alles« (Werckmeister 1698, 78). Wer nicht improvisieren kann, bleibet »sein Tage an der Tabulatur hangen / stümpert so was hin / und kömmt nicht weiter.« (Werckmeister 1702, 69) | |
Kuhnau 1700, 507 f. | |
Arnecke 2016, 333 (Diskussionsbeitrag von Ludwig Holtmeier). | |
Man wird diese vom Rezensenten hier vorgetragene Anekdote für glaubhaft halten. Vgl. Wolf 2016, 30–38 und Davidson/Scripp/Welsh 1988. | |
Riemann 1914/15 und 1916. | |
Frühklasse des Instituts zur Frühförderung musikalisch Hochbegabter (VIFF). | |
Vgl. Sekles 1901. Das Lehrbuch dieses Autors basiert ebenso auf Stufenzahlen und der Erkenntnis, dass ein Sprung in eine labile Stufe (2., 4., 6. und 7. Stufe »in freier Anwendung«) schwieriger ist als ein Sprung in eine stabile – am Dreiklang orientierte – Stufe. | |
Vgl. Bailey 1987, 148. | |
Förster 1804 und 1818. | |
In dieser Hinsicht folgt Kodály den englischen Traditionen des 19. Jahrhunderts (Ann Glover, John Curwen); vgl. den hier vorgestellten Beitrag von Tanja Spatz. | |
Ausnahme ist die Silbe la, die bei Tiefalteration zu lo wird. Vgl. Streib o. J. | |
Prosser 2000. | |
Vgl. Phleps 2001. | |
Vgl. Smith 1991, 21 f. | |
Schenk 1958, 7; vgl. den Begriff »Mollübertragung« bei den sowohl in Dur als auch in Moll vorgestellten Melodien bei Schenk 1957, 4 f. | |
Vgl. Felbick 2021. Eine Ausnahme bilden die Pädagog*innen, deren eigene Ausbildung auf absoluten Solmisationssilben basierte. Allerdings ist mit diesem System nicht der Anspruch verbunden, musikalische Zusammenhänge zu verstehen. | |
Vgl. Wolf 2016, 30–38. |
Literatur
Arnecke, Jörn (2016), »Musiktheorie ohne Schule – Schule ohne Musiktheorie? Eine Podiumsdiskussion bei der Weimarer Tagung ›Musiktheorie und Hörerziehung‹«, Zeitschrift der Gesellschaft für Musiktheorie 13/2, 329–340. https://doi.org/10.31751/919 (30.6.2022)
Bailey, Derek (1987), Musikalische Improvisation – Kunst ohne Werk, übers. von Hermann J. Metzler, Hofheim: Wolke.
Davidson, Lyle / Larry Scripp / Patricia Welsh (1988), »›Happy Birthday‹: Evidence for conflicts of perceptual knowledge and conceptual understanding«, The Journal of Aesthetic Education 22/1, 65–74.
Felbick, Lutz (2021), Bibliographie Gehörbildung / Hörerziehung mit Einführung und vierfachem Index. Bibliography of Aurals Skills and Music Perception, Rotterdam: Bookmundo Direct.
Förster, Emanuel Aloys (1804), Anleitung zum General-Bass, Leipzig: Breitkopf & Härtel.
Förster, Emanuel Aloys (1818), Practische Beyspiele als Fortsetzung zu seiner Anleitung des Generalbasses, Wien: Artaria.
Kuhnau, Johann (1700), Der musicalische Quack-Salber, Dresden: Riedel.
Phleps, Thomas (2001), »Die richtige Methode oder Worüber Musikpädagogen sich streiten. Anmerkungen zur Funktion und zum Funktionieren von Solmisationssilben und ihren Produzenten in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts«, in: Vom Umgang des Faches Musikpädagogik mit seiner Geschichte, hg. von Mechthild von Schoenebeck, Essen: Die Blaue Eule, 93–139.
Prosser, Steve (2000), Essential Ear Training for Today’s Musician, Boston: Berklee Press.
Riemann, Hugo (1914/15), »Ideen zu einer ›Lehre von den Tonvorstellungen‹«, Jahrbuch der Musikbibliothek Peters 21/22, 1–26.
Riemann, Hugo (1916), »Neue Beiträge zu einer ›Lehre von den Tonvorstellungen‹«, Jahrbuch der Musikbibliothek Peters 23, 3–21.
Schenk, Paul (1957), Schule des Blattsingens, Leipzig: Pro Musica.
Schenk, Paul (1958), Schule des musikalischen Hörens, Leipzig: Pro Musica.
Sekles, Bernhard (1901), Musikdiktat, Mainz: Schott.
Smith, Timothy A. (1991), »A Comparison of Pedagogical Resources in Solmization Systems«, Journal of Music Theory Pedagogy 5/1, 1–23.
Streib, Martine (o. J.), Relative Solmisation in der beruflichen Musikausbildung. https://www.hfm-wuerzburg.de/lehren/Streib/Relative_Solmisation_in_der_beruflichen_Musikausbildung.pdf (30.6.2022)
Werckmeister, Andreas (1698), Erweiterte und verbesserte Orgel-Probe, Quedlinburg: Calvisius.
Werckmeister, Andreas (1702), Harmonologia Musica, Quedlinburg: Calvisius.
Wolf, Anna (2016), »Es hört doch jeder nur, was er versteht«. Konstruktion eines kompetenzbasierten Assessments für Gehörbildung, Phil. Diss., Berlin: Verlag für Wissenschaft und Bildung.
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