Aerts, Hans / Martin Grabow / Cosima Linke (2022), »Editorial«, Zeitschrift der Gesellschaft für Musiktheorie 19/1, 5–6. https://doi.org/10.31751/1158
eingereicht / submitted: 30/06/2022
angenommen / accepted: 30/06/2022
veröffentlicht (Onlineausgabe) / first published (online edition): 20/07/2022
zuletzt geändert / last updated: 20/07/2022

Editorial

Der seit 2010 jährlich ausgetragene Aufsatz-Wettbewerb der Gesellschaft für Musiktheorie dient der Förderung der wissenschaftlichen Kompetenzen des Nachwuchses im Fach Musiktheorie; zu den weiteren Angeboten zur Nachwuchsförderung der GMTH gehören u. a. der künstlerische Wettbewerb sowie die Vergabe von Stipendien.[1] Die vorliegende Varia-Ausgabe enthält zwei der prämierten Beiträge des 11. Aufsatz-Wettbewerbs 2021.

Roman Lüttin (Heidelberg; 2. Preis) fragt nach Gioseffo Zarlinos Tonartenverständnis – nicht aber, wie dieser es in den Istitutioni harmoniche (1558) als Musiktheoretiker dargelegt hat, sondern wie es die von ihm komponierten Musici quinque vocum moduli (1549) erkennen lassen. Anhand der Analyse dreier Stücke dieser 1549 gedruckten Motettensammlung zeigt Lüttin exemplarisch, wie ihre jeweiligen Tonarten (die im Druck explizit genannt sind) kompositorisch zum Ausdruck gebracht worden sind. Dabei bezieht er sich auf Aspekte der Moduslehren von Franchino Gaffurio, Pietro Aaron und Heinrich Glarean, dessen Unterscheidung von zwölf statt acht Modi Zarlino hier bereits (zwei Jahre nach der Veröffentlichung von Glareans Dodekachordon) übernommen hatte.

Anna Hausmann (Luzern; 1. Preis) beschreibt, welche Aspekte der Naturphilosophie des 17. und 18. Jahrhunderts in Jean-Philippe Rameaus Traité de l’harmonie (1722) und Génération harmonique (1737) aufscheinen. Davon ausgehend unternimmt sie den Versuch, charakteristische barocke Kadenzen und Kadenzfolgen im kartesischen Koordinatensystem darzustellen und beobachtet, dass sich die Akkordfolgen als kreisende Bewegungen um die Tonika erweisen. Dies veranschaulicht nach Hausmann besonders deutlich, dass zentrale Ideen des u. a. von Newton und Descartes geprägten mechanistischen Weltbilds – hier: die Vorstellungen einer durch Impuls ausgelösten Bewegungsenergie und des zyklischen Bewegungsablaufs um ein Gravitationszentrum – in Rameaus Musiktheorie ebenfalls von maßgeblicher Bedeutung sind.

Auch die beiden freien Einreichungen in dieser Ausgabe befassen sich mit sehr unterschiedlichen Themengebieten und methodischen Ansätzen. Lara Nettelmann (Bielefeld) arbeitet die grundsätzliche Bedeutung sowie unterschiedliche klangliche und kompositionstechnische Funktionen des obligaten Klaviers in Gades Fünfter Sinfonie heraus und beleuchtet damit eine in der Musikforschung eher vernachlässigte gattungsgeschichtliche Weiterentwicklung der Sinfonie in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Neben analytischen Einzelbetrachtungen zu den vier Sätzen bezieht sie auf Grundlage detaillierter Quellensichtung (auch dänischsprachiger Dokumente) aufführungs- und rezeptionsgeschichtliche Aspekte mit ein. Ihr Beitrag leistet damit auch eine Korrektur zu verbreiteten Rezeptionstopoi und -diskursen in Bezug auf Gades sinfonisches Schaffen, welche dieses häufig einseitig auf vermeintlich ›nordische‹ Charakteristika festzulegen versuchen.

Rich Pellegrin (Gainesville, Florida) untersucht eine Jazz-Improvisation über North Portland des Jazz-/R&B-Musikers Robert Glasper u. a. aus dem strukturanalytischen Blickwinkel der Neo-Riemannian Theory. Im besonderen Fokus steht dabei das gleichsam kontrapunktische Verhältnis von Stabilität und Salienz, d. h. von einer implizierten Harmonik, die als stabile Schicht im Hintergrund wirkt, und der jeweiligen aufführungspraktischen Realisierung harmonischer Progressionen (hier als »voicing« bezeichnet), welche die saliente bzw. markante Schicht ausmacht. Pellegrin verknüpft seine musiktheoretischen und analytischen Überlegungen eng mit einem neuartigen Hörmodell von Jazz-Musik, das er als »stabile Normen und markante Abweichungen« (»Stable Norms and Salient Deviations«) bezeichnet. Abschließend unterzieht er die Jazzimprovisation Glaspers einer genauen Hör- und Strukturanalyse vor dem Hintergrund der zuvor entwickelten Methodik; Audio- und Videobeispiele mit Transkriptionen bzw. analytischen Annotationen ergänzen die Analyse.

Rezensionen einer Monographie und eines Sammelbands, die beide im vergangenen Jahr erschienen sind, sowie der Neuauflage eines Lehrbuchs, das (zumindest in der englischsprachigen Musiktheorie) bereits als Klassiker gelten kann, vervollständigen diese Ausgabe. Herzlich danken möchten wir neben den Autorinnen und Autoren und den Rezensenten ausdrücklich auch den Gutachterinnen und Gutachtern, die eine unverzichtbare Arbeit für die Qualitätssicherung der Zeitschrift leisten. Das bereits angekündigte Themenheft zu »Artistic Research« wird als zweite Ausgabe dieses Jahrgangs folgen.

Hans Aerts, Martin Grabow, Cosima Linke

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