Linke, Cosima (2019), »Malte Markert, ›Musikverstehen‹ zwischen Hermeneutik und Posthermeneutik. Untersuchungen aus historischer und pädagogischer Perspektive (= Klangfiguren. Studien zur Historischen Musikwissenschaft, Bd. 4), Würzburg: Königshausen & Neumann 2018«, Zeitschrift der Gesellschaft für Musiktheorie 16/1, 159–166. https://doi.org/10.31751/1000
eingereicht / submitted: 21/02/2019
angenommen / accepted: 15/03/2019
veröffentlicht (Onlineausgabe) / first published (online edition): 30/06/2019
zuletzt geändert / last updated: 30/06/2019

Malte Markert, ›Musikverstehen‹ zwischen Hermeneutik und Posthermeneutik. Untersuchungen aus historischer und pädagogischer Perspektive (= Klangfiguren. Studien zur Historischen Musikwissenschaft, Bd. 4), Würzburg: Königshausen & Neumann 2018

Cosima Linke

Schlagworte/Keywords: Analysemethoden; hermeneutics; Hermeneutik; methods of analysis; musical didactics; musical understanding; Musikdidaktik; posthermeneutics; Posthermeneutik; Verstehen

Der (kunst-)philosophische Diskurs der Posthermeneutik versucht das Verstehen jenseits der Unterscheidung von Verstehen und Nichtverstehen und damit einhergehend auch jenseits der Opposition von (philosophischer) Hermeneutik (im Sinne Hans-Georg Gadamers) auf der einen und dekonstruktivistischen bzw. negativitätsästhetischen Ansätzen (vor allem Jacques Derrida, Christoph Menke) auf der anderen Seite neu zu denken. Posthermeneutik kann im Wesentlichen als eine Haltung der Aufmerksamkeit für dasjenige am zu verstehenden Gegenstand sowie am Verstehensprozess selbst beschrieben werden, das sich einem teleologischen Verstehensbegriff entzieht und sich nicht auf die Herstellung bzw. Zuschreibung von Sinn reduzieren lässt. Diese posthermeneutische Aufmerksamkeit widmet sich daher auch im Besonderen materiellen, körperlich-sinnlichen Aspekten des zu verstehenden Gegenstandes und des Verstehens – hier spielen Begriffe wie Materialität, Präsenz, Ereignis und Aura eine zentrale Rolle –, und schlägt sich in einem bewusst performativen Gebrauch der Sprache nieder, der versucht, das, was im Medium der Sprache prinzipiell uneinholbar ist, dennoch zu zeigen, etwa durch paradoxe Figuren.[1]

Ein musikbezogener posthermeneutischer Verstehensbegriff richtet dementsprechend seine besondere Aufmerksamkeit auf die sich einem zielgerichteten und eindeutigen Verstehen entziehenden, körperlich-sinnlichen Aspekte von Musik wie dem in einer aktuellen Aufführung sich ereignenden Klang und dessen ästhetischer Wahrnehmung bzw. Erfahrung, auch aus der Kritik an einer in der Musikforschung weit verbreiteten »Klangvergessenheit« heraus.[2]

In seinem Buch ›Musikverstehen‹ zwischen Hermeneutik und Posthermeneutik. Untersuchungen aus historischer und pädagogischer Perspektive reflektiert Malte Markert den musikbezogenen Verstehensbegriff aus vorrangig hermeneutikkritischer, aber auch aus an hermeneutische Traditionen anknüpfender Perspektive; in einem posthermeneutischen Sinne bildet dabei die Berücksichtigung der spezifischen ästhetischen Qualität musikalischer Phänomene einen wesentlichen Ausgangspunkt von Markerts kritischer Auseinandersetzung mit unterschiedlichen musikbezogenen Verstehensbegriffen (7–10).

Markerts Untersuchung geht vom philosophisch Abstrakten aus und dringt zunehmend zum musikalisch Konkreten vor, was dem Buch einen stringenten und gut nachvollziehbaren Aufbau verleiht: Zunächst erläutert Markert den Begriff des Musikverstehens in zwei separaten Kapiteln aus hermeneutischer (Kap. 2) sowie posthermeneutischer Sicht (Kap. 3) – wobei die kritische Auseinandersetzung mit der musikpädagogischen Rezeption und Weiterentwicklung sowie musikdidaktischen Umsetzung der unterschiedlich geprägten Verstehensbegriffe eine zentrale Rolle spielt –, anschließend stellt der Autor in vier exemplarischen Einzelstudien ein breit gefächertes Panorama praktischer Anwendungsmöglichkeiten eines posthermeneutischen Verstehensbegriffs im Kontext musikalischer Analyse vor (Kap. 4), bevor er in einem nächsten Schritt Verbindungen zwischen den analytischen Methoden und Beobachtungen des vorhergehenden Teils zur Musikdidaktik für den Schulunterricht, u. a. in Form von konkreten Aufgabenvorschlägen, herstellt (Kap. 5). Markert verortet seine Arbeit dabei selbst an der Schnittstelle von (historischer) Musikwissenschaft und Musikpädagogik (9). In diesem weiten Bogen, den das Buch von einer grundlegenden Reflexion musikbezogener Verstehensbegriffe vor dem Hintergrund des Diskurses der Posthermeneutik über von einem posthermeneutischen Verstehensbegriff ausgehende (bzw. inspirierte) Vorgehensweisen der musikalischen Analyse bis hin zur Theoriebildung und Methodik einer für einen posthermeneutischen Verstehensbegriff sensibilisierten Musikdidaktik entwickelt, liegt die besondere Aktualität und Anschlussfähigkeit des Ansatzes.

Im begriffstheoretischen Teil zum Musikverstehen aus hermeneutischer Sicht (Kap. 2) geht Markert im Anschluss an Heidegger von der Unterscheidung zwischen einem interpretierenden oder auslegenden Verstehen im Sinne eines ›hermeneutischen Als‹ und einem definierenden oder identifizierenden Verstehen im Sinne eines ›apophantischen Als‹ aus, und verortet Musikverstehen innerhalb des ›hermeneutischen Feldes‹ zwischen diesen beiden Polen (11, 17). Unter das Paradigma des ›hermeneutischen Als‹ ordnet Markert von musikwissenschaftlicher Seite den Verstehensbegriff Hans Heinrich Eggebrechts und von musikpädagogischer Seite den Ansatz der ›didaktischen Interpretation‹ ein (Karl Heinrich Ehrenforth und Christoph Richter). Markerts Kritik an diesen Verstehensbegriffen bzw. deren musikdidaktischen Implementierungen richtet sich hier vor allem gegen einen universellen Anspruch des Hermeneutischen einhergehend mit einem normativen Verstehensbegriff sowie gegen eine die individuelle klangliche Erscheinung, also die spezifisch ästhetische Qualität der Musik funktionalisierende Reduktion auf einen ›hinter‹ ihr liegenden Gehalt (Eggebrecht) bzw. auf ›lebensweltliche‹ oder ›existenziale‹ Erfahrungen (Ehrenfort / Richter) (29–30; 42–46). Unter dem Gesichtspunkt des ›apophantischen Als‹ setzt sich Markert kritisch mit Carl Dahlhaus’ Verstehensbegriff auseinander sowie mit der ›Music Learning Theory‹ im Anschluss an Edwin E. Gordon. Wie im vorherigen Teilkapitel fasst Markert also durchaus sehr verschiedene musikwissenschaftliche und musikpädagogische Ansätze vergleichend zusammen, und kritisiert hier vor allem die dominierende Orientierung an den Kategorien Zusammenhang und Logik im Sinne eines vorrangig strukturellen Verstehens, das auf eine subkutane Struktur zielt (Dahlhaus) bzw. eine verabsolutierende, kontextblinde Systematisierung von musikalischen Grundbausteinen in der ›Music Learning Theory‹ (35; 41–42). Generell übt Markert Kritik an der expliziten wie impliziten Sprachanalogie hermeneutisch geprägter musikbezogener Verstehensbegriffe, welche einseitig ein diskursives, sprachanaloges Verstehen gegenüber anderen Verstehensmodi privilegierten (45–46), insofern wäre hier eine etwas eingehendere Auseinandersetzung mit dem Paradigma der Sprachähnlichkeit bzw. Sprachanalogie eine sinnvolle Ergänzung.[3] In diesem Kapitel dominiert die kritische Auseinandersetzung mit musikpädagogischen und -didaktischen Ansätzen, während aus dem Bereich der Historischen Musikwissenschaft mit Eggebrechts und Dahlhaus’ Thesen zum Musikverstehen zwar vorrangig etwas ältere, aber einflussreiche musikbezogene Verstehensbegriffe besprochen werden.

Im begriffstheoretischen Teil zum Musikverstehen aus posthermeneutischer Sicht (Kap. 3) thematisiert Markert die Aspekte »Universalität und Normativität« (Kap. 3.1), »Intentionalität und Alterität« (Kap. 3.2), »Kohärenz und Differenz« (Kap. 3.3) sowie »Diskursivität und Prozessualität« (Kap. 3.4). Dabei stellt Markert vier zusammenfassende Haupt-Thesen zu einem posthermeneutischen Musikverstehen auf (55, 63, 72, 86), von denen ich hier zwei herausgreifen möchte:

»These 2: ›Verstehen‹ kann nicht nur als bewusste Bewegung des Subjekts gedacht werden, sondern auch als ein ›Sich-ansprechen-Lassen‹ durch das Objekt. Die zu entwickelnde Befähigung wäre dann weniger die zum Verstehen als die zur Passibilität.« (63)

»These 4: ›Musikverstehen‹ kann als ›Vollzug‹ oder als ästhetisches ›Spiel‹ und damit in einem Modus gedacht werden, der sich zwischen dem Modus verbaler Analyse und musikalischer Praxis befindet.« (86)

Auch im weiteren Verlauf des Buches hebt Markert wiederholt das Moment der ›Passibilität‹ eines posthermeneutisch gefassten Musikverstehens gegenüber dem der Aktivität und Intentionalität in Bezug auf das Verhältnis von Subjekt und Objekt hervor, vor allem im Anschluss an Emmanuel Lévinas’ ethischen Alteritätsbegriff (55ff., 108–109, 201), der schon bei Mersch eine wichtige Rolle spielt.[4] Dabei kritisiert Markert »eine vereinnahmende, beherrschende oder ›imperialistische‹ Tendenz« (56) des hermeneutischen Verstehens, das hier vorrangig mit einer aktiven, selbstbestimmten und intentionalen Haltung des Subjekts in Verbindung gebracht wird (60). Hieran könnte eine weiterführende Diskussion über aktive und passive (mimetische) Aspekte des Musikverstehens anknüpfen, auch mit Blick darauf, dass das die musikalische Analyse lange Zeit (explizit und implizit) dominierende Paradigma des strukturellen Verstehens bzw. Hörens einer tendenziell einseitig und normativ objektorientierten Sichtweise unterliegt (etwa in Adornos musiksoziologischer Hörertypologie oder auch bei Dahlhaus; siehe bei Markert Kap. 2.2), und also gerade nicht den aktiven oder performativen Anteil des verstehenden Subjekts in einem selbstbestimmten Sinne stark macht, sondern die ›Adäquatheit‹ des Verstehens an strukturellen Objekteigenschaften misst.[5] Eine genuin posthermeneutische Kritik an musikbezogenen Verstehensbegriffen könnte daher meiner Auffassung nach noch stärker verschiedene Modi des Verstehens herausarbeiten, die sowohl passive oder mimetische als auch aktive oder performative Momente des Verstehens bzw. Hörens umfassen.[6] Zudem wird der Begriff des Vollzugs (siehe These 4) bei Markert wenig konkretisiert und bleibt daher eigentümlich blass (82–83), ähnlich wie der im musikdidaktischen Teil im Anschluss an Pierangelo Maset eingeführte Begriff der ›ästhetischen Operation‹ (Kap. 5), was mit einer Nichtberücksichtigung von jüngeren (musik- und kunstphilosophischen) Veröffentlichungen zum Begriff des Nachvollzugs bzw. Vollzugs einhergeht.[7]

In diesem Zusammenhang fällt auch auf, dass eine Auseinandersetzung mit dem Begriff der ästhetischen Erfahrung eine untergeordnete Rolle spielt,[8] der ja in besonderer Nähe und gewissermaßen Konkurrenz zum Begriff des Musikverstehens steht, gerade in dessen posthermeneutischer Fassung, insofern der Begriff der ästhetischen Erfahrung weniger den Aspekt des diskursiven, begrifflich geprägten Verstehens bzw. dessen Scheitern in den Fokus rückt, sondern von vorneherein die materiellen, sinnlich-körperlichen, also dem be-greifenden Verstehen widerständigen Aspekte im rezipierenden Umgang mit Musik betont. Damit geht ein blinder Fleck des Buches einher – zumindest aus Sicht der Rezensentin –, der sich auf einer tiefgreifenderen Ebene in die analytischen Einzelstudien hinein fortsetzt: Denn das nicht bloß dekonstruktivistische oder negativitätsästhetische, sondern das dezidiert posthermeneutische Moment des posthermeneutischen Verstehensbegriffs betrifft auf Musik bezogen insbesondere deren klanglich-sinnliche Präsenz und ›Ipseität‹,[9] oder um mit Markert zu sprechen, die ästhetische Qualität musikalischer Phänomene (8). Diese klanglich-sinnliche Präsenz und performative Ereignishaftigkeit steht aber in den analytischen Fallbeispielen bis auf das letzte, in dem Markert in Auseinandersetzung mit zeitgenössischer Popularmusik (HipHop und Techno bei Kanye West und Akufen) u. a. die ›Körnung der Stimme‹ (im Anschluss an Roland Barthes) zum Thema macht, nicht im Zentrum: Markerts an Bezugstheorien und Methoden vielfältiger sowie sensibel beobachtender analytischer Umgang mit Musik aus unterschiedlichen Epochen, Gattungen und Stilrichtungen (Cage, Beethoven, Schumann, Kanye West und Akufen) zielt vor allem auf eine Dekonstruktion der für die jeweiligen Fallbeispiele relevanten Verstehensprämissen und -paradigmen, indem diese durch die jeweils am konkreten Gegenstand entwickelten analytischen Vorgehensweisen und Beobachtungen hinterfragt werden.[10]

In überzeugender und innovativer Weise gelingt das meiner Ansicht nach in dem Teilkapitel zu drei exemplarisch ausgewählten Klavierliedern Robert Schumanns (Kap. 4.3), in dem Markert das Verhältnis von Vokal- und Instrumentalpart untersucht und dabei die analytische Prämisse einer »Kongruenz von textlicher Aussage und musikalischer Struktur« (130) hinterfragt bzw. dekonstruiert. So arbeitet Markert – auch vor dem Hintergrund narratologischer Ansätze in der musikalischen Analyse – heraus, inwiefern sich der Klavierpart als ›selbstständige Instanz‹ (144) betrachten lässt, die einer einfachen Entsprechung von Text und Musik sowie einer Kongruenz von Vokal- und Instrumentalpart z. B. durch Mittel wie dem ›ungenauen Unisono‹ (Markert bezieht sich hierbei u. a. auf Adorno) zwischen Gesang- und Klaviermelodie zuwiderläuft (138–145). Mit Blick auf das erste Beispiel Zwielicht (op. 39/10) stellt sich aber die Frage, ob nicht gerade diese das Musikverstehen zunächst irritierende Selbstständigkeit und Unabhängigkeit des Klavierparts gegenüber der Vokalpartie sowie insbesondere das metrisch, harmonisch und satztechnisch vieldeutige Klaviervorspiel – Markert spricht von einer »Unterbestimmtheit des Beginns« (144) – aus hermeneutischer Sicht den Charakter des ›Zwielichtigen‹ verstärkt und so zu einer Kongruenz zwischen Text und Musik jenseits einzelner hypotypischer Wort-Ton-Beziehungen auf einer übergeordneten Ebene führt.[11] Markerts Liedanalysen zielen in erster Linie darauf, das dynamische Spiel unterschiedlicher oder widerstreitender Instanzen zu zeigen, auch im Sinne von narrativen Instanzen (157); dabei hätten aus posthermeneutischer Sicht konkrete klangliche oder auch interpretatorische Gesichtspunkte noch stärker Berücksichtigung finden können.[12]

In der analytischen Einzelstudie zu Beethovens drei frühen Klaviersonaten op. 2 (Kap. 4.2) gerinnt das hinterfragte Analyse-Paradigma allerdings zu einer tendenziell schematisch verkürzten Negativfolie, die so nicht (mehr) dem aktuellen Stand des analytischen Diskurses um klassische Sonatenformen entspricht (aber vermutlich im Hochschul- und insbesondere Schulunterricht häufig dominierende Praxis ist). Markerts Ausgangspunkt ist hier die kritische Auseinandersetzung mit dem »Paradigma strukturellen Verstehens, kompositorischer Logik und vollkommener Integration von Teil und Ganzem« (109). Seine Entscheidung, diese Kritik an den Kopfsatz-Expositionen der frühen Klaviersonaten op. 2 zu exemplifizieren und nicht etwa an dem ohnehin als dem Verstehen schwer zugänglich geltenden Spätwerk Beethovens, ist überzeugend, da insbesondere op. 2/1 in der Formenlehre-Praxis leicht Gefahr läuft, zu einem Prototypen stilisiert zu werden. Erklärtes Ziel Markerts ist es, in Bezug auf die drei Expositionen »herauszustellen, wie auch hier in je anderer Weise ›Verstehen‹ im Sinne der Identifikation formaler Funktionen an seine Grenzen geführt wird« (110). In diesem Kontext wäre eine konkrete Auseinandersetzung mit dem Begriff der formalen Funktion, wie er etwa in der einflussreichen Formenlehre William E. Caplins Verwendung findet und auf die Markert nur indirekt verweist, naheliegend gewesen; zumal Caplin sowie Kofi Agawu grundlegende formale Funktionen auf das mit dem musikalischen Zeitverlauf korrespondierende Hörverstehen bzw. auf ein Spiel mit Hörerwartungen beziehen.[13]

In der analytischen Ausarbeitung der drei Kopfsatz-Expositionen zeigt sich jeweils im Detail eine aus meiner Sicht problematische Verkürzung des kritisierten Paradigmas, die dazu führt, dass Markerts Analysen nicht wesentlich darüber hinausgehen: So thematisiert er beispielsweise in Zusammenhang mit dem Kopfsatz von op. 2/3 insbesondere die Schwierigkeiten, angesichts der Heterogenität des Materials zwischen überleitenden und thematischen Passagen (bzw. Funktionen) zu unterscheiden und ein eindeutiges Seitenthema zu bestimmen (113–116). Obwohl Markert erwähnt, dass der Themendualismus von Haupt- und Seitenthema vor allem in englischsprachigen Sonatentheorien nicht so schematisch ausgeprägt ist wie in deutschsprachigen (124–125), sondern unter Begriffen wie ›subordinate-theme group‹ (Caplin) oder ›secondary-theme zone‹ (Hepokoski/Darcy) auch multiple (und abgesehen von der Reihenfolge des Auftretens funktional gleichrangige) Seitenthemen gefasst werden können, ist das hier ein entscheidender Punkt, auf den Markert nicht näher eingeht: So beschreiben etwa James Hepokoski und Warren Darcy die Exposition von op. 2/3 als Beispiel für einen sogenannten ›Trimodular Block‹ (TMB), in diesem Fall einen »enormous TMB (with expanded third module) that stretches from m. 27 to the EEC [essential expositional closure] in m. 77«,[14] und in dem zwei Mittelzäsuren (›apparent double medial caesuras‹) auftreten (in Takt 26 und in den Takten 45/46 mit ›caesura fill‹).[15] Die kritisierte Problematik einer eindeutigen Zuschreibung zu einer Seitenthemenfunktion stellt sich hierbei nicht direkt, der Trimodular Block umfasst sowohl thematische als auch überleitende Module. Mit Blick auf op. 2/1 nimmt Markert explizit Bezug auf Hepokoskis und Darcys Sonatentheorie und problematisiert hier das Konzept der ›essential expositional closure‹ (EEC) (126–128): Markerts posthermeneutischer Ansatzpunkt ist in diesem Fall, zu zeigen, dass hier eine eindeutig identifizierbare Schlusswirkung im Sinne einer EEC vorenthalten wird, dabei werden aber analytische Begriffe von Hepokoski und Darcy zum Teil unpräzise angewendet.[16] Bei aller berechtigten Kritik, die man an Caplins und vor allem an Hepokoskis und Darcys tendenziell über-identifizierenden Ansätzen üben kann – gerade aus posthermeneutischer Sicht –, sollte meines Erachtens im Kontext einer Kritik formal-analytischer Paradigmen dieser aktuelle Stand der begrifflichen Ausdifferenzierung noch eingehender berücksichtigt werden, zumal Hepokoski und Darcy das Verhältnis von stilistischen Konventionen und stilistisch geprägten Hörerwartungen, also Verstehensstrategien, als dialogisch auffassen.[17]

Abgesehen von dieser Kritik an einer eher oberflächlichen Rezeption Markerts von neueren Ansätzen in der Formanalyse klassischer Sonatenformen, bleibt für mich insbesondere in der Beethoven-Einzelstudie die Frage offen, was hier das spezifisch posthermeneutische von Markerts Ansatz ausmacht, wie also die individuelle ästhetische Qualität dieser frühen Klaviersonaten auch mit Blick auf die klangliche Oberfläche thematisiert bzw. gezeigt werden kann. Auch hier wäre, ähnlich wie im Schumann-Kapitel, aus posthermeneutischer Sicht ein stärkeres Eingehen auf klangliche oder gestische Aspekte[18] sowie auf die Hörerfahrung, etwa unter Bezugnahme auf konkrete individuelle Interpretationen, wünschenswert gewesen.

Die eigentlichen Stärken in Markerts posthermeneutischer Auseinandersetzung mit verbreiteten Analyse-Paradigmen klassischer Sonatenformen werden dann meines Erachtens auch im musikdidaktischen Teil deutlich (Kap. 5), in dem Markert konkrete Vorschläge ausarbeitet, wie die Problematik einer zu schematischen und einer auf verstehender Identifikation im Sinne eines ›apophantischen-Als‹ fixierten Formenlehre im Schulunterricht umgangen und aufgebrochen und der Verstehens- bzw. Interpretationsprozess in einem selbstreflexiven Sinne thematisiert oder ›inszeniert‹ werden kann (185–188). Ähnlich wie in Kapitel 3 formuliert Markert im musikdidaktischen Kapitel Thesen, die hier nun als Denkanstöße und Ausgangspunkte für musikdidaktische Reflexionen und konkrete Aufgabenvorschläge dienen, jeweils exemplifiziert an einem oder mehreren der zuvor analysierten Fallbeispiele (Kap. 4). Dadurch entstehen zahlreiche Querverbindungen zwischen den begriffstheoretischen, analytischen und musikdidaktischen Überlegungen. So lautet die zweite These: »Musikunterricht kann unterschiedliche Einstellungen des verstehenden Subjekts zum zu verstehenden Objekt erproben« (183). Hier geht Markert näher auf die bereits in Kapitel 4.1 behandelte Ästhetik der Intentionslosigkeit bei Cage und auf mit dieser korrespondierende nicht-intentionale Modi des Verstehens bzw. Hörens ein (107ff.), und zwar mit Blick auf die musikdidaktische Fragestellung, »wie verschiedene Modi des Hörens erfahrbar zu machen sind« (184). Obwohl bei Markert eine latente Skepsis gegenüber produktionsdidaktischen Ansätzen heraushörbar ist (8), thematisiert der Autor vor allem im vierten Abschnitt auch Alternativen zu verbal-analytischen Zugängen unter Bezugnahme auf Pierangelo Masets ›Didaktik der Differenz‹ (188–198).

Meinem Eindruck nach überwiegt in den analytischen Einzelstudien (bis auf die Analyse von Songs von Kanye West und Akufen, aber hier liegt eine an Klang und Performativität orientierte Vorgehensweise auch auf der Hand) insgesamt eher der dekonstruktivistische bzw. negativitätsästhetische Blickwinkel – dafür spricht auch die wiederholte enge Bezugnahme auf Menkes Negativitätsästhetik (11, 64, 74, 176f., 198, 206) –, der zwar mit dem posthermeneutischen Blickwinkel die explizite Thematisierung des Nichtverstehens und der prinzipiellen Uneinholbarkeit des Sinns gemeinsam hat, aber weniger auf das Performative und Ereignishafte, die klanglich-sinnliche Präsenz und körperlich erfahrbare Materialität musikalischer Phänomene, eben diejenigen Momente, die Mersch in seiner Posthermeneutik auch in Abgrenzung zur Dekonstruktion so betont, abzielt.

Was aber ›posthermeneutisches Musikverstehen‹ genau ist oder nicht ist, dafür gibt es keine eindeutige Definition, insofern leistet Markerts Studie einen differenzierten Beitrag zu diesem noch jungen Diskurs und führt dabei umfangreiches Material aus unterschiedlichen Feldern zusammen. Markerts Arbeit regt zu kritischem Weiterdenken an und stellt eine aus meiner Sicht fruchtbare und zeitgemäße interdisziplinäre Verknüpfung zwischen dem (kunst-)philosophischen Diskurs der Posthermeneutik bzw. generell einer kritischen Reflexion von unterschiedlichen musikbezogenen Verstehensbegriffen, musikanalytischen Umgangsweisen mit Musik und musikdidaktischem Handeln im Schulunterricht her, welche bisher in dieser fundierten und vielseitigen Form meines Wissens nicht stattgefunden hat.

Anmerkungen

1

Ich beziehe mich hier wie auch Markert in seiner Arbeit vorrangig auf Dieter Mersch; einschlägige Arbeiten von Mersch zur Posthermeneutik sind insbesondere Mersch 2002, 2010 und 2011; siehe auch Gumbrecht 2004.

2

Vgl. Urbanek 2013; 2018.

3

Etwa unter Bezugnahme auf Wellmer 2009.

4

Vgl. etwa Mersch 2002, 403–423.

5

Vgl. Adorno 1973, 181ff.

6

Siehe hierzu die in Adornos Ästhetik-Vorlesung (1958/59) gegenüber seiner Hörertypologie differenziertere Sichtweise auf das Verstehen bzw. die ästhetische Erfahrung von Musik, welche hier als aktiv-passiver Nach- bzw. Mitvollzug des musikalischen Kunstwerks aufgefasst wird, vgl. Adorno 2017, 186–200 (12. Vorlesung). Zur aktiven Passivität der ästhetischen Erfahrung bei Adorno vgl. Seel 2014, 251–256 und Linke 2018, 137–150; zu mimetischen Aspekten der ästhetischen Erfahrung u. a. im Anschluss an Adorno vgl. beispielsweise Grüny 2014, 100–118 sowie zum performativen Hören Utz 2014.

7

Becker 2007 und 2010, Vogel 2007 sowie Bertram 2014; Bertram spricht vorrangig von ›interpretativen Aktivitäten‹ bzw. Praktiken der Rezipierenden in der Auseinandersetzung mit Kunstwerken, versteht diese aber im Sinne eines (aktiven) Nachvollzugs (vgl. ebd., 121–131); siehe auch Anmerkung 6.

8

Zwar greift Markert Ruth Sondereggers Begriff des Spiels auf (Sonderegger 2000) und bezieht sich insbesondere grundlegend auf Christoph Menkes negativitätsästhetische Explikation der ästhetischen Erfahrung bzw. des ästhetischen Verstehens (Menke 1991), einige jüngere Veröffentlichungen zum Begriff der ästhetischen Erfahrung werden aber nicht rezipiert, vgl. die Sammelbände Küpper/Menke 2003 und Deines/Liptow/Seel 2013.

9

Vgl. Urbanek 2013, 122.

10

Dieser eher dekonstruktivistische als posthermeneutische Ansatz wird auch in der Zusammenfassung nochmals deutlich (201).

11

Markert spricht hier selbst von einer Legitimation durch den Liedtext in Bezug auf das ›ungenaue Unisono‹ (144, 146).

12

Zu einem posthermeneutischen Ansatz in der Liedanalyse, der den Klang auch mit Blick auf den Sprachklang ins Zentrum rückt, siehe Holzmüller 2015.

13

Vgl. Caplin 1998 und 2010 sowie Agawu 1991, 51–79.

14

Hepokoski/Darcy 2006, 172.

15

Vgl. ebd., 170–177.

16

So beschreibt Markert die Takte 25/26 als eine ›evaded PAC‹ im Sinne Hepokoskis und Darcys; allerdings ziehen Hepokoski und Darcy ›evaded PAC’s‹ grundsätzlich nicht als (vorenthaltene) EEC’s in Betracht, in fast polemischer Abgrenzung zu Caplin: »From the standpoint of Sonata Theory, of course, such an evasion through a drop to the I6 chord would never be considered even a proposal for an EEC, since the requisite PAC is still nowhere in view« (ebd., 169–170, hier 169). Davon abgesehen erscheint die Situation in den Takten 25/26 so kurz nach der Mittelzäsur in Takt 20 ohnehin zu früh im musikalischen Zeitverlauf für eine potentielle EEC; die Takte 40/41 beschreibt Markert als ›attenuated PAC‹ (vgl. Hepokoski/Darcy 2006, 170). Auch wenn sich über den Schlusswirkungsgrad dieser Kadenz diskutieren lässt, erscheint mir die ohnehin relativ kurze Exposition von op. 2/1 zumindest nicht als ein besonders geeignetes Beispiel, um ein Spiel mit der Hörerwartung einer EEC zu thematisieren (128).

17

Vgl. Hepokoski/Darcy 2006, 614ff.; zu einer kritischen Auseinandersetzung mit Hepokoskis und Darcys Konzept eines Spiels mit stilistischen Konventionen bzw. eines ›formal wit‹ siehe Neuwirth 2011.

18

Vgl. Hatten 2004.

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