Mendelssohns Beethoven-Rezeption als Beispiel musikalischer Zitiertechnik
Ariane Jeßulat
Über die Ähnlichkeit zwischen Mendelssohns Streichquartett op. 13 in a-Moll und Beethovens Streichquartett op. 132 ist bereits viel geschrieben worden. Der vorliegende Aufsatz arbeitet eine neue Facette analytischen Vergleichens heraus, indem er die Berührungspunkte beider Quartette als bewußte musikalische Zitate gemäß ihrer Intention systematisiert und als »komponierte Analysen in der Sprache Mendelssohns« versteht. Dabei sind besonders diejenigen Zitate interessant, die über die Ähnlichkeit mit op. 132 hinausgehen und Einzelheiten aus der gesamten Gruppe der späten Streichquartette in einen Zusammenhang stellen, aus dem sich Mendelssohns rezeptive und kompositorische Perspektive rekonstruieren läßt.
I. Das Zitat als Instrument der Rezeption und Komposition
Die musikalische Rezeption Beethovens in Werken der Romantik ist eine vertraute Erscheinung des 19. Jahrhunderts. Selten kann diese jedoch so detailliert nachvollzogen werden wie im Falle des Streichquartetts op. 13 a-Moll von Felix Mendelssohn. Die eklatanten Ähnlichkeiten zwischen diesem Jugendwerk Mendelssohns und dem Streichquartett op. 132 a-Moll von Beethoven haben Mendelssohns Komposition den Ruf eines Gesellenstücks eingetragen, mit dem sich der 17jährige am Prüfstein des späten Beethoven maß.[1] Eine Betrachtung dieser Beethoven-Rezeption lediglich unter dem Aspekt kompositorischer Eigenständigkeit Mendelssohns ist jedoch eine vertane Chance. In einer beschränkten Vorstellung von kompositorischer Originalität und in einer zu starken Fixierung auf Mendelssohns Bedürfnis, sich in der Gattung Streichquartett als Komponist zu etablieren, wird leicht übersehen, daß musikalische Rezeption, die wie hier auf höchstem kompositorischem Niveau stattfindet, nicht weniger Eigenständigkeit besitzen muß als ein Musikstück, in dem die Einflüsse älterer Musik weniger bewußt formuliert sind. Fruchtbare Analyseergebnisse verspricht dagegen der Versuch, anhand der Ähnlichkeiten zwischen den beiden Quartetten zu rekonstruieren, wie Mendelssohn Beethovens späte Quartette in der künstlerischen Rezeption verstanden hat. Das heißt zunächst, die Punkte genau zu benennen, an denen eine kompositorische Aneignung stattgefunden hat. Wo waren Beethovens späte Quartette Mendelssohns eigenem musikalischen Denken so nahe, daß er sie zitieren konnte?
Beim Gebrauch des Wortes »Zitat« ist die heute gängige Vorstellung des wissenschaftlichen Zitats irreführend: Im 19. Jahrhundert war es auch in wissenschaftlichen Texten noch verbreitet, aus dem Gedächtnis zu zitieren. Deswegen ging der produktive Anteil beim Zitieren über das bloße Abschreiben und Nachvollziehen hinaus. Meist entstanden in der Erinnerung neue Inhalte – streng genommen Fehler –, die dem Zitat eingeschmolzen wurden, so daß die Intention, aus der heraus zitiert wurde, die Vorlage produktiv und z. T. entscheidend veränderte.
Dieser Akt der Neukomposition aus der Erinnerung ist im Falle des literarischen Zitats noch bestimmender. Das literarische Zitat kommt dem Zitieren von gehörter Musik vermutlich am nächsten, was die Möglichkeiten der Verwechslung, Anknüpfung und Variantenbildung betrifft. Mendelssohn stand der eigene musikalische Hintergrund, seine gesamte musikalische Vorstellungswelt bereit, um das Gehörte im Moment der Erinnerung zu beeinflussen (da er Beethoven nicht zu wissenschaftlichen Zwecken rezipierte, ergab sich auch für ihn kein Anlaß, sich gegen Einflüsse des eigenen Gestaltungswillens auf das Zitierte zu wehren, wenn sie denn ästhetisch vertretbar waren).
So ist das Zusammendenken mehrerer Stellen aus Beethovens Musik in einem Zitat weniger ein Erinnerungsfehler Mendelssohns als Ausdruck des kompositorischen Nachvollzugs. Die Verknüpfung mehrerer Originalstellen in einem Zitat ist eine Analyseleistung, weil sie auf einen verbindenden Gedanken zwischen beiden Stellen hinweist. In diesem Fall ist das Zitat ein verkürzter Vergleich und Instrument einer musikalischen Metaphorik.
Es ist als gesichert anzusehen, daß Zitate als Symptome einer starken Rezeptionsbereitschaft im Komponieren Mendelssohns eine bedeutende Rolle spielen. Das gilt ferner für seine literarischen Erzeugnisse: Die Fähigkeit, den Stil eines anderen dem eigenen Ausdruckswillen anzupassen, schien für ihn weniger eine angestrengte Stilkopie als ein bloßes Umschalten in einen anderen Duktus zu sein – sei es nun die Aneignung von Goethes Italienischer Reise in seinem Briefstil oder seine kompositorische Auseinandersetzung besonders mit den Vorbildern Bach und Beethoven.[2]
So gehörte es zu seinem Verstehen der späten Streichquartette Beethovens, sie sich teilweise anzueignen. Dabei kann mit ›teilweiser Aneignung‹ nicht das buchstäbliche Übernehmen einiger Versatzstücke gemeint sein. Vielmehr schien es Mendelssohn darum zu gehen, das so angeeignete im musikalischen Zitat ›mit eigenen Worten‹ noch einmal zu sagen.
Welche Möglichkeiten hat nun die moderne Forschung, konsensfähig zu rekonstruieren, wie Mendelssohn gehört hat? Es gibt einige sehr konkrete Hör- und Leseprotokolle Mendelssohns, die er zu verschiedenen Anlässen in Briefen an Musikerfreunde schickt. Das ausführlichste ist in dem berühmten Brief an seinen Komponisten-Freund Lindblad enthalten, in dem er sich über Beethovens späte Quartette und sein eigenes Quartett a-Moll op. 13 äußert. Bei seinen Kommentaren werden drei Dinge deutlich: Zum einen leistet Mendelssohn immer Erinnerungsarbeit im doppelten Sinne, indem er relativ weit voneinander entfernte Punkte der späten Beethoven-Quartette formal zueinander in Bezug setzt, dabei jedoch sehr konkret auf Details eingeht. Zum anderen ist bemerkenswert, daß er bewußt auf zwei Ebenen hört, einer »beobachtenden« – wie er es nennt – und einer empfindenden. Er ist in jedem der beschriebenen Momente in der Lage, genau zu benennen, welches beobachtete Detail bei ihm welche Empfindung auslöst. Schließlich ist auffällig, daß Mendelssohn gemäß der Musikästhetik seiner Zeit an das Gehörte die Ansprüche einer Musiksprache stellt: Er sucht einerseits nach eindeutigen semantischen Konnotationen, die dem musikalischen Ausdruck formelhafte Wiedererkennbarkeit verleihen, andererseits bemängelt er die Leere zu formelhafter Musik: Die Lösung aus dem Dilemma scheinen für ihn Formeln zu bieten, deren Bezug zur Vorstellungs- und Erlebniswelt noch frisch ist. So wären für ihn die Beethoven-Zitate solche wiedererkennbaren Formulierungen, die noch nicht formelhaft leer sind und die Empfindungs- und Vorstellungswelt einer ganzen Quartettgruppe hervorzaubern können, so, wie sie sich Mendelssohns innerem Ohr offenbart hat. Durch die Integration der Zitate in das eigene Quartett eignet er sich diese Vorstellungswelt Beethovens an und macht sie zugänglich – nicht zuletzt auch seinem Auditorium.
Obwohl Mendelssohns Brief an Lindblad inzwischen sehr oft zitiert wurde, ist man den analytischen Detailangaben noch wenig konkret nachgegangen. Man hat sie also noch nicht als das gewürdigt und genutzt, was sie sind: hochqualifizierte Höranalysen.
Mendelssohns Beobachtungen werden im detaillierten Nachvollzug an den Streichquartetten genau dann aussagekräftig, wenn sich sein Hörverständnis als Gegenprobe in den musikalischen Zitaten abzeichnet. Aus der verschiedenen Qualität der Zitate können grob vier verschiedene Rezeptionsweisen rekonstruiert werden:
Das großflächige Stilzitat
Das literarisierende Zitat, das viele Aspekte der Beethovenschen Vorlagen intentional unter einer semantisch besetzten Formel zusammenfaßt: in diesem Fall der musikalischen Frageformel.
Das Zitat unter dem Aspekt ›Zusammenhang und Detail‹: Mendelssohn greift dazu besonders Übergänge heraus, an denen Details auf einen Zusammenhang der verschiedenen Sätze des Quartetts oder sogar auf die Verwandtschaft ganzer Quartette hinweisen.
Die ›gestohlenen Verse‹ – Zitate von Stellen, die Mendelssohn »Blicke« nennt, die ihn – schlicht gesagt – besonders bewegt haben. Er erwähnt diese im Brief[3], und man findet sie um vielsagende Nuancen verändert in op. 13 wieder. Obwohl hier größte Nähe zur Vorlage vorhanden ist, zeigen die Abweichungen besonders deutlich seine musikalische Intention beim Zitieren.
II. Vergleich
Mendelssohn erwähnt in dem Brief an Lindblad die Quartette Es-Dur op. 74, B-Dur op. 130 und cis-Moll op. 131. Alle beobachteten Details finden sich als Zitate in op. 13. Im folgenden werden einige der Zitate der Vorlage gegenübergestellt und daraufhin untersucht, unter welchem kompositorisch-ästhetischen Aspekt Mendelssohn hier zitiert und im Zitat die Vorlage modifiziert hat (Bsp. 1 und 2).
Beispiel 1: Ludwig van Beethoven, Quartett op. 130, II. Satz
Beispiel 2: Felix Mendelssohn, Quartett op. 13, III. Satz
1) Das großflächige Stilzitat
Mendelssohn übernimmt von der Vorlage sowohl die Großform als auch den harmonischen Aufbau, letzteren sogar ziemlich detailliert. Seine Veränderungen vernachlässigen die verfremdenden Extreme der Beethovenschen Komposition – die ungewöhnliche, den Streicherklang verzerrende Tonart, die undurchsichtige, enge Lage des Quartettsatzes und schließlich das hohe Spieltempo. Ebenso gibt er die scheinbare Eigenständigkeit der Mittelstimmen in der Sequenz auf. Während Mendelssohn die Extreme aus op. 130 in op. 13 glättet, arbeitet er einen anderen Aspekt der Vorlage pointiert heraus: Die archaische Stilisierung in der Vorlage. Die vollständige Quintfallsequenz ist in der bei Beethoven gewählten Stimmführung ebenso ein Archaismus wie der Gestus einer tanzartigen Symmetrie. Mendelssohn überspitzt diese Historisierung: In der Art einer Romanze wird die Melodie der ersten Violine mit der Pizzicato-Imitation eines Lautensatzes begleitet. Der Titel »Intermezzo« weist ähnlich wie ›Canzone‹ oder ›Romanze‹ auf eine historisierende Intention hin. Wie in Beethovens op. 130 ist dieser im Vergleich zu den übrigen Sätzen von formelhaft-distanzierter Haltung. Bei Mendelssohn ist diese Distanz mehr als bei Beethoven eindeutig historisch definiert, wenngleich der Titel »Intermezzo« ebenso Beethovens Satz charakterisieren könnte.
2) Das literarisierende Zitat
Die Quartette a-Moll op. 132 und F-Dur op. 135, aus denen Mendelssohn am deutlichsten zitiert, sind in dem Brief an Lindblad nicht erwähnt. Der Grund dafür war sicher nicht kompositorische Eitelkeit. Bei späterer Gelegenheit hatte er keine Probleme damit, wenn man Beethoven für den Komponisten seines op. 13 hielt. Vielmehr sah er die Ähnlichkeiten zugunsten einer übergeordneten Idee als sekundär an. Diese übergeordnete Idee fand er in seinem Lied Frage (op. 9, Nr. 2) am deutlichsten ausgesprochen. Das Lied bildet bekanntlich in der Einleitung und zum Abschluß den programmatischen Rahmen des Quartetts. Ich zitiere aus dem Brief: »Das Lied, was ich dem Quartette beifüge, ist das Thema desselben. Du wirst es im ersten und letzten Stück mit seinen Noten, in allen vier Stücken mit seiner Empfindung sprechen hören … Es hat nur einen Vers, es ist ein Impromptu ganz so, wie es da ist, auf einer Landpartie zum Pfingsten voriges Jahr mit Text und Musik dahingeschrieben.«[4] – Daß Mendelssohn hier auch Textdichter war, läßt eine Vermutung über das enge Verhältnis von Lied und Quartett zu: Die einzige ausdrucksstarke Textzeile ist das Incipit, das Mendelssohn auch als Thema über das Quartett schrieb: »Ist es wahr?« Die Identifikation dieses geronnenen Augenblicks im Anfangsmotto mit dem gesamten Quartett ging so weit, daß das Quartett bei Mendelssohn und auch in seinem engeren Freundeskreis nur »Ist es wahr?« hieß. Der mit Mendelssohn befreundete Dichter Droysen verband mit dem Quartett und der Formel »Ist es wahr?« die ganze Aura des Jahres 1828, wozu neben dem Quartett auch Mendelssohns Stube, Landpartien und ausgiebige Lektüre der Flegeljahre von Jean Paul gehörten.[5] Was nun dieses Incipit mit einer Beethoven-Rezeption zu tun hat, zeigt sich wiederum an den Zitaten. Die semantische Konnotation dieser Melodieformel als musikalische Interrogatio war zu Mendelssohns Zeit eine Selbstverständlichkeit, die nicht nur musikalischen Fachleuten vertraut war. Schon in Kirnbergers Artikel »Rezitativ« in Sulzers Allgemeiner Theorie der Schönen Künste (die sich an interessierte Laien wendet) ist die Floskel ausführlich beschrieben. Varianten dieser Rezitativformel finden sich in Beethovens Instrumentalmusik an prominenter Stelle, nämlich im zweiten Satz der Klaviersonate op. 81a Les Adieux mit dem Titel L’Absence und im Finalsatz des Streichquartetts op. 135 mit dem Titel »Der schwer gefaßte Entschluß«, versehen mit der Formel »Muß es sein?« (Bsp. 3–5):
Beispiel 3: Mendelssohn, Quartett op. 13, Motto
Beispiel 4: Beethoven, Quartett op. 135, Finalsatz, Motto
Beispiel 5: Beethoven, Klaviersonate op. 81a, II. Satz
Das musikalische tertium comparationis, das Mendelssohns Aufgreifen des a-Moll-Quartetts op. 132 mit diesen Rezitativformeln verbindet, ist die etablierte Harmonisierung einer solchen melodischen Frageformel, ein sogenannter ›phrygischer Halbschluß‹ (Bsp. 6):
Beispiel 6: Phrygischer Halbschluß
Dieser findet sich sowohl als harmonische Keimzelle des ersten Satzes von op. 132 als auch zu Beginn des ersten Satzes von op. 135 und verbindet demnach beide Beethoven-Quartette als gemeinsame Idee. Mit dem Zitat unter dem literarisierenden Aspekt ›Frage‹ weist Mendelssohn auf die enge Verwandtschaft zwischen den beiden Quartetten hin (Bsp. 7 und 8):
Beispiel 7: Beethoven, Quartett op. 132, I. Satz, T. 2, 40, 13
Beispiel 8: Beethoven, Quartett op. 135, I. Satz, T. 1–4
Die Literarisierung von Beethovens Quartett in der Rezeption durch das Motto ›Frage‹ hat neben der analytischen noch eine hermeneutische Funktion. Wie Mendelssohns Umgang mit dem Titel »Ist es wahr?« deutlich macht, wurde Beethoven durch das usurpierende und deutende Zitat zum Teil seiner persönlichen Erfahrungswelt. Mendelssohn konnte Augenblicke seiner Gegenwart und auch das Fluidum eines gebildeten Miteinanders im Freundeskreis im Motto zusammenzwingen und konservieren.
3) Das konstruktive Zitat, in dem ein Detail an Übergängen auf einen verborgenen Bauplan der Quartettgruppe hinweist
Mendelssohn beschreibt die Funktion dieser Details in Beethovens Quartetten mit folgenden Worten: »Siehst Du, das ist einer von meinen Puncten! Die Beziehung aller 4 oder 3 oder 2 oder 1 Stücken einer Sonate auf die andere und die Theile, so daß man durch das bloße Anfangen durch die ganze Existens so eines Stückes schon das Geheimnis weiß ... das muß in die Musik; Hilf mir’s hineinbringen!« Bemerkenswert ist, daß diese zitierten Übergangsdetails auch in Mendelssohns op. 13 die Funktion von Übergängen haben: Das erste zitierte Detail ist ein harmonischer Archaismus aus dem zweiten Satz von op. 132. Er vermittelt an der mit den Worten »Neue Kraft fühlend« versehenen Stelle zwischen den Tonarten F-Lydisch und D-Dur. Mit dem ersten Vorzeichen in einer sonst reinen ›Weiße-Tasten-Diatonik‹ ist die Wendung ein fast schockierendes Signal.
Mendelssohn setzt die Wendung, durch das Pianissimo hervorgehoben, an den Anfang seines Quartetts. Auch seine Einleitung stilisiert durch den Note-gegen-Note-Satz in gemäßigter Form einen Typus älterer Musik. Allerdings ist seine Intention die, dem fragenden Motto des Quartetts eine Vorgeschichte in der Einleitung vorauszuschicken. Während das Lied Frage aus dem Nichts mit dem Motto beginnt, ist das Motto im Quartett scheinbar ein Resultat, das von der Harmonik des Anfangs ausgelöst wird: Die Ausweichung nach h-Moll gibt den Impuls zu einer ausufernden Sequenz, die in das fragende Motto ausläuft (Bsp. 9):
Beispiel 9: Mendelssohn Quartett op. 13, Einleitung
Von bisher unterschätzter Bedeutung für das Quartett op. 13 ist offenbar der Eindruck gewesen, den die Cavatina aus dem B-Dur-Streichquartett op. 130 bei Mendelssohn hinterließ. Es heißt in dem Brief: »... und dann kommt eine Stelle, wo es Ces-Dur wird, und viel Gesäufze, und wie das ein Weilchen gedauert hat, fängt das Es mit solch einem himmlischen Umwenden wieder an, daß ich nichts herzlicheres kenne« (Bsp. 10):
Beispiel 10: Beethoven, Quartett op. 130, Cavatina – Übergang zur Reprise, T. 47–50
Diesem Übergang geht in der ersten Violine die verminderte Quarte ces-a als melodisches Motiv voraus. Diese Quarte ist durch die dissonante untere Nebennote g als melodisches Motiv emanzipiert. Die Emanzipation ist jedoch das Ergebnis einer entwikelnden Variation dieses Quart-Motivs, das – als Klischee zur Inszenierung der Subdominante an Höhepunkten – den Höhepunkt des ersten Es-Dur-Teils gestaltete (Bsp. 11):
Beispiel 11: Beethoven, Quartett op. 130, Cavatina, T. 27–28
Das Umwenden ist auch deshalb ›himmlisch‹, weil im Moment der größten zeitlichen und harmonischen Entfernung durch die Signalwirkung der verminderten Quarte in der fremden Umgebung an den idyllischen Ausgangszustand vor dem Ces-Dur-Teil erinnert wird. Mendelssohn setzt dieses Quartmotiv im Kontrastteil des zweiten Satzes von op. 13 ein. Es signalisiert hier den Übergang des streng fugierten Abschnitts in eine scheinpolyphone Durchführung des neuen Motivs (Bsp. 12):
Beispiel 12: Mendelssohn, Quartett op. 13,ii, T. 46
4) Die ›gestohlenen Verse‹
Ganz entgegen dem Sprichwort, daß es leichter sei, dem Achill seinen Schild als dem Homer einen einzigen Vers zu stehlen, weist op. 13 zwei fast wörtliche Beethoven-Zitate auf, denen Mendelssohn bruchlos ein musikalisches Umfeld geschaffen hat. Da er die zitierten Stellen in dem Brief an Lindblad ausdrücklich beschreibt, ist es mit etwas Geduld nicht schwer, die Stellen zu identifizieren. Vielleicht diente ihre Erwähnung in dem Brief als eine Art Test, ob der Freund seiner inständigen Bitte nachgekommen war, die Beethoven-Quartette und sein eigenes, brandneues Quartett mit äußerster Gründlichkeit zu studieren...
Es heißt dort: »Denn wahrhaftig Lindblad, ich verstehe Dich [...] und Dein Adagio aus As von Beethoven jetzt etwas besser wie sonst. Es ist verflucht sentimental, und wie ich heute abend auf der Straße ging, da brüllte ich so laut [...], daß mich die Leute sehr ansahen, ich sang aber weiter und dachte mir, ich müßte Dir’s schreiben. Es ist die Einfachheit in dem Singen und eine ganz musikalische Wendung (die ich nur einem Blick oder einer Erscheinung vergleichen könnte), kurz, es ist ein Eindruck, der aus den Beethovenschen Tönen spricht, und mich oft zu weinen macht (innerlich nämlich)« (Bsp. 13):
Beispiel 13: Beethoven, Quartett op. 74,ii, T. 18–22
Mendelssohn macht dieses Motiv, das im Variationensatz von op. 74 die Funktion eines roten Fadens erfüllt, da es unverändert bleibt, zum Thema seines zweiten Satzes von op. 13 (Bsp. 14):
Beispiel 14: Mendelssohn, op. 13,II, T. 1–5
An den Modifikationen wird deutlich, daß Mendelssohn das ›Singen‹ in weit höherem Maße auf die erste Geige übertrug, als er es bei Beethoven vorfand. Dem entspricht die Aufforderung an Lindblad, beim Spielen am Klavier immer die erste Geige mitzusingen – er täte es ebenso. Ein ebenso beredter ›gestohlener Vers‹ ist die Stelle, die Mendelssohn folgendermaßen im Brief kommentiert: »In dem aus b ist eine Cavatina aus es und da singt immer die erste Geige und die Welt singt mit, die 2-te Geige macht ihr immer die Schlüße nach ...« Der erste durch das Echo der zweiten Violine intensivierte Schluß bleibt außerdem wegen seiner auffälligen Septime, die durch den Impuls der Synkope vorgezogen und exponiert in der Oberstimme liegt, im Ohr haften. Mendelssohn zitiert genau diese Wendung mehrfach im Thema des zweiten Satzes von op. 13 (Bsp. 15 und 16):
Beispiel 15: Beethoven, Quartett op. 130, Cavatina T. 8–9
Beispiel 16: Mendelssohn, Quartett op,. 13,ii, T. 5–6 und T. 16–19
Bemerkenswert an seiner Variante ist wiederum die Vorrangstellung der ersten Violine, denn er ebnet das Echo der zweiten Violine bei Beethoven zu einer bloßen Wiederholung der Phrase ein. Beredt ist jedoch ein anderes Detail in der zweiten Violine: Dem Begleitmotiv der fallenden Quarte, das bei Beethoven eher unauffällig ist, kommt mehr Eigenständigkeit zu. Mendelssohn löst das Motiv zum einen aus der Überbindung und versieht es mit einem Akzent. Besonders aber überträgt er durch die Punktierung beim zweiten Mal diejenige Aufgabe auf das Begleitmotiv, die bei Beethoven das Echo hatte: nämlich die Aufgabe, das Motiv in der Wiederholung durch eine Variante zu intensivieren.
Mendelssohn verglich diese Stellen bei Beethoven mit »Blicken«. Wenn ein ›Blick‹ bedeutet, daß im Strom einer großflächigen Wahrnehmung die Sinne plötzlich durch ein Detail bis zum Grad des Erkennens geschärft werden, so mögen diese Stellen Lindblad und anderen Kennern der Beethoven-Quartette solche ›Blicke‹ geschenkt haben.
Die biografischen Umstände, die zu einem solch dichten Netzwerk musikalischer und verbaler Zitate um das Quartett op. 13 herum führten, sind ein Glücksfall, der sich in der Musikgeschichte wohl nicht oft findet. Dennoch sollte der analytische Erfolg, der sich beim Verfolgen der Hinweise Mendelssohns einstellt, dazu ermutigen, die musikalische Analyse nicht zu stark auf ein Wechselspiel zwischen Werk und theoretisch erfaßter Norm einzuengen. Dieses für die Analyse notwendige Gerüst sollte immer von Vergleichen begleitet sein, die Komposition mit Komposition zu erklären versuchen. Mendelssohns häufige Nähe zur grammatischen Konvention, die nicht mechanisch ist, macht seine Musik in vielen Fällen zu einem besseren und lebendigeren Leitfaden für das musikalische Denken des 19. Jahrhunderts, als es allein die Lehrwerke dieser Zeit sein können.
Anmerkungen
Vgl. hierzu die gründliche Darstellung Krummachers 1978 und 1980. Im Vergleich zum Ansatz dieses Beitrags legt Krummacher seinen Analyseschwerpunkt jedoch mehr auf strukturelle Ähnlichkeiten und Kontraste zwischen den beiden Quartetten und arbeitet Mendelssohns kompositorische Eigenständigkeit eher dadurch heraus, daß er die Ähnlichkeiten kaum auf tatsächliche Zitate hin untersucht, sondern nur als Argumentationsbasis für eine Gegenüberstellung der Unterschiede heranzieht. | |
Zur Rolle des Zitats und des Zitierens als konstitutivem Element in Mendelssohns Künstlerprofil siehe Miller 1974, 27. | |
Bref till Adolf Fredrik Lindblad fran Mendelssohn, Dohrn, Almqvist, Atterbom, Geijer, Frederika Bremer, C. W, Böttiger och andra, hrsg. von L. Dahlgren, Stockholm 1913, S. 20 ff. | |
Ebd. | |
Vgl. Wehmer 1959, 88. |
Literatur
Bref till Adolf Fredrik Lindblad fran Mendelssohn, Dohrn, Almqvist, Atterbom, Geijer, Frederika Bremer, C. W, Böttiger och andra, Stockholm 1913.
Krummacher, Friedhelm: Mendelssohn – der Komponist, Studien zur Kammermusik für Streicher, München 1978.
Ders.: »Synthesis des Disparaten – Zu Beethovens späten Quartetten und ihrer frühen Rezeption«, AfMW 37,2 (1980), 99–134.
Miller, Norbert: »Felix Mendelssohn Bartholdys italienische Reise«, in: Carl Dahlhaus (Hg.), Das Problem Mendelssohn (=Studien zur Musikgeschichte des 19. Jhs. Bd. 41), Regensburg 1974, 27ff.
Wehmer, Carl (Hg.): Ein tief gegründet Herz. Der Briefwechsel Felix Mendelssohn Bartholdys mit Johann Gustav Droysen, Heidelberg 1959.
Universität der Künste Berlin [Berlin University of Arts]
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