Figurenlehre und Analyse
Notizen zum heutigen Gebrauch
Janina Klassen
Der heutige Gebrauch der Figurenlehre als analytischer Zugriff auf ältere Musik und die verschiedenartigen Konzeptionen von Figurenlehren im 16., 17. und 18. Jahrhundert unterscheiden sich grundlegend. Der auf Arnold Schering zurückgehende Versuch, die alten Figurenlehren als Analyseapparat einzusetzen, erfolgte unter den Voraussetzungen der Formenlehre des 19. Jahrhunderts. Sowohl die ästhetischen, kunsttheoretischen und ideologischen Unterschiede zwischen dem 19. Jahrhundert und früheren Jahrhunderten als auch diejenigen zwischen den einzelnen Figurenlehren verbieten den systematischen Einsatz von ›Figurenlehre‹. Nur eine konsequente Kontextualisierung der Figuren und ihrer Verwendung wäre ein angemessener Umgang mit dem Phänomen.
Für die Analyse von Musik zwischen 1500 und 1800 hat sich die Figurenlehre längst als methodischer Zugang etabliert, allen Einwänden, einschließlich meiner eigenen (Klassen 2001), zum Trotz. Eine genauere Untersuchung der diversen ›Figurenkataloge‹ in Schriften des 16. bis 18. Jahrhunderts hat dagegen ergeben, daß das historische Repertoire nicht einfach mit den ›Figurenlehren‹ des 20. Jahrhunderts gleichzusetzen ist (Klassen 1997). Die heutige Figurenlehre bietet in geraffter, die Komplexität reduzierender Form eine gute Erstinformation über einen diversifizierten historischen Sachverhalt. Allerdings wird in den von Brandes 1935, Unger 1941 oder Bartel 1986 veröffentlichten, konkordanten Sammlungen der spezifische historische Kontext verwischt. In Bartels Handbuch der musikalischen Figurenlehre, das bereits mehrfach neu aufgelegt worden ist, werden etwa, nach einer allgemeinen Begriffsbestimmung und jeweils kurzen Überblicken über die historischen Schriften und Autoren (9–71), in alphabetischer Folge von ›abruptio‹ bis ›variatio‹, Figurendefinitionen verschiedener Quellen aus dem 16. bis 18. Jahrhundert extrahiert und kurz kommentiert (73–285). Die pragmatischen Aspekte eines Benutzerhandbuchs liegen auf der Hand. Erstens bietet das Buch einen raschen Überblick und verweist auf die Fundstellen in historischen Traktaten. Zweitens spiegelt es aber auch die schon in der historischen Theorie gewählte Praxis, einfach Figurennamen synekdochisch einzusetzen für musikalische Phänomene, die ansonsten mit Besonderheiten der hochspezialisierten Kontrapunkt- und Moduslehren beziehungsweise als madrigalistische Wortausdeutungen be- oder umschrieben werden müßten (vgl. Dahlhaus 1954, 1989 und Meier 1974). In dieser Hinsicht ähnelt die Figuren- einer Formenlehre, und sie könnte – einen differenzierten Umgang vorausgesetzt – auch dementsprechend genutzt werden.
Das Bedürfnis nach Figurenlehren in der neueren Musiktheorie beziehungsweise -wissenschaft entsteht kaum zufällig im Gefolge musikalischer Formenlehren im 19. Jahrhundert. Deren Voraussetzung liegt einmal in der ästhetischen Aufwertung von Musik als eigenständiger Kunst und zum anderen in dem Bestreben, musikalische Analyse einem an den Naturwissenschaften orientierten Wissenschaftsverständnis anzugleichen. Gewünscht wird ein gleichsam abstraktes Gerüst als objektivierender Maßstab für die Analyse der Kunstfertigkeit.
Hans Heinrich Eggebrechts seinerzeit attraktives Analysemodell von Norm und Individuation (Eggebrecht 1979) hat seinen Ursprung in der wesentlich von Nikolaus Forkel formulierten Vorstellung (Forkel 1788) von musikalischer ›Grammatik‹ als normativer Regel und der ›Poetik‹ beziehungsweise ›Rhetorik‹ als kunstvollem Regelverstoß. In der älteren Theorie geht es aber nicht immer um einen modellhaften Normsatz im Sinne einer Grundform, wie in einer Mustergrammatik. Vielmehr fassen die von mir untersuchten Figurenkataloge mehrheitlich besonders kunst- beziehungsweise wirkungsvolle Beispiele aus der Musik ihrer Zeit in Figuren, um sie für Musikexperten zur Nachahmung zu empfehlen. Ohnehin muß man für die ältere Zeit von anderen Grammatikdefinitionen ausgehen. Noch bei Johann Mattheson bedeutet Grammatik Schriftkompetenz. Darunter wird die Fähigkeit verstanden, eine gehörte Musik korrekt aufzuschreiben.
Erst mit der Abstraktion von Form als geistiger Leistung im Sinne der Autonomieästhetik konnten entsprechende Analyseverfahren für die neue Musik des 19. Jahrhunderts überhaupt entwickelt werden. Sie setzen die in den 1830er Jahren noch neue Vorstellung voraus, daß die Kompositionsidee bereits in den Notenzeichen enthalten (Kawohl 2002, 150f.), das heißt an der Partitur ablesbar sei. Als Konsequenz daraus folgt eine eng am Textmodell und am Notentext als der materialisierten Idee orientierte Musikanalyse, die die räumliche Ausbreitung von Musik, ihre akustischen und klanglichen Momente und die Fülle performativer Gesten höchstens indirekt berücksichtigt.
Nun spielte im musikalischen Geschichtskonzept, wie etwa Robert Schumann es formulierte, die alte Musik eine immer wichtigere Rolle als Grundlage für die Musik der Gegenwart (Schumann, I, 252–54). Daher wurden im 19. Jahrhundert auch die neu ins Blickfeld geratenen Werke von Bach, Händel oder Scarlatti autonomieästhetisch umgewertet, indem man sie aus ihrem ursprünglichen, ästhetisch heteronomen Kontext herauslöste und auf ihre selbstreferentiellen Qualitäten fokussierte. Irritierendes wie die als mißlungen empfundenen barocken Arientexte redigierte oder strich man ungeniert und ohne Skrupel gegenüber den ›Alten Meistern‹ – nachzulesen etwa in Mendelssohns Aufführungspartitur von Bachs Matthäuspassion. Barockmusik wandelte sich damit von einem Medium im Dienst der Repräsentation stereotyper Affekte zum individuellen Ausdruck eines musikalischen Autoren-Ichs. So hören wir sie auch heute noch.
Tatsächlich ließen sich die autonomieästhetischen Qualitäten Alter Musik zwar behaupten, aber kaum mit den späteren, an der eigenen zeitgenössischen Instrumentalmusik entwickelten, abstrakten Mustern fassen. Schumann hatte die Modernität Bachs noch durch spezifische Charakteristika hervorgehoben und dessen Wohltemperiertes Klavier mit Etüden von Chopin verknüpft. Zu seiner Zeit stand keine formalisierte Metasprache für eine Strukturanalyse im heutigen Sinne zur Verfügung. Parallel zur Etablierung einer universal anwendbaren Analysesprache wuchs indessen auch ein zunehmendes Geschichtsbewußtsein für historische Angemessenheit. Scherings Vorschlag, nach einer bis dahin unentdeckten Figurenlehre für die analytische Erschließung barocker Musik zu forschen (Schering 1908), bot hier einen vielversprechenden Ansatz. Er wurde erst von Brandis (1935) und Unger (1941) ausgeführt, nachdem in den 1920er Jahren die heute prominentesten Quellen, nämlich die Schriften von Burmeister und Bernhard, veröffentlicht worden waren (Klassen 2001).
Den Hintergrund für Scherings Vorschlag dürften Bachanalysen gebildet haben wie die illustren Albert Schweitzers (Schweitzer 1905/08), die ihrerseits durch Wagners Leitmotive und die Erfahrung mit dem französischen Symbolismus der Jahrhundertwende inspiriert sind. Leitmotive haben ebenso dramaturgische wie satztechnische Funktionen. Aufgrund der Praxis, sie zu isolieren und in Motivtabellen aufzulisten, bekommen sie eine allgemeinere, von der konkreten musikalischen Situation mehr abgelöste semantische Kodierung, als vielleicht ursprünglich beabsichtigt. Diese Verbindlichkeit behauptete Schweitzer auch für bestimmte »›Schmerz‹ oder ›Freude‹ ausdrückende Motive« in Bachs Kantaten (441ff.). Schweitzer legte damit den Grundstein für eine Art ›Bachwörterbuch‹, dessen musikalische ›Vokabeln‹ dann standardisiert und ›wissenschaftlich‹ mit rhetorischen Figuren aufgefüllt wurden, so daß nun auch Bachs Instrumentalmusik als musikalische Predigt ausgelegt werden konnte.
Eine weitere folgenreiche Voraussetzung für dieses neue Denken in semantisch kodierten Musikformeln bietet die Filmmusikästhetik, die sich, von den USA ausgehend, mit der Verbreitung des attraktiven Mediums am Anfang des 20. Jahrhunderts etabliert. Da im Film Bilder und Szenen rasch wechseln, braucht man kurze Musikphrasen zur Vertonung. Motivkataloge mit einschlägigen Repertoire-Zitaten und Originalkompositionen erfüllen dieses Bedürfnis (Kloppenburg 2000, 70). Die Wirkung der dort enthaltenen kurzen Beispiele ist bereits in den Herkunftswerken (darunter vielfach Opern und Operetten) erprobt. Sie können bei der ›live‹ zum laufenden Bild produzierten Filmmusik als allgemeinverständliche Versatzstücke variabel eingesetzt und szenenhaft collagiert werden, was ihre Anwendung deutlich von Wagnerschen Leitmotivtechniken unterscheidet. Die inhaltliche und emotionale Kodierung der Filmmusikmotive beruht weitgehend auf Erfahrung.
Weitreichende Folgen hatte die bei Schering angelegte Isolierung der Figuren- von einer Affektenlehre, obwohl rhetorische Figuren ein wesentlicher Bestandteil affektiver Rede sind. Die Trennung wurde dadurch begünstigt, daß die parallel geführte Affektdiskussion sich auf einen anderen Fokus konzentrierte. Hermann Kretzschmar ging es um ein Gegenmodell zur Vorherrschaft einer allein auf das kognitive Moment beschränkten Erkenntnis im Sinne Hanslicks. Er unterstrich dagegen einen heteronomen Zugang zur Musik, der emotionale und wirkungsästhetische Aspekte einbegreift (Kretzschmar 1911/12). Hier wurden die Weichen gestellt für eine polare Sichtweise, in der die rhetorischen Figuren als rationales und die Affekte als emotionales Moment Alter Musik fungierten. Der Unterschied vertiefte sich in der weiteren Rezeption im 20. Jahrhundert. Die Opposition ›Figur versus Affekt‹ verknüpfte man mit der traditionellen Spaltung von ›Geist versus Sinnlichkeit‹. In einem weiteren Schritt übertrug man die traditionelle Dichotomie auf einen aus dem Kulturkampf des Deutschen Kaiserreichs nachwirkenden Konflikt, in dem der ›protestantische Norden‹ mit protestantischer Kirchenmusik und der ›katholische Süden‹ mit Oper assoziiert wurde. Schon Philipp Spitta hatte Bach energisch als einen »Erzkantor« mit eher Bismarckschen Zügen vom Konzertsaal in die Kirche zurückversetzt. Die Nord-Süd-Spannung wurde dadurch unterstützt, daß im wesentlichen nur einige aus dem deutschen Sprachraum stammende Quellen Figurenkataloge enthalten. Als Nachweise für die Geistfähigkeit deutscher Musik mißverstanden, konnte die so verankerte Rhetorizität explizit wie implizit kultur- und rassepolitisch instrumentalisiert werden (z.B. durch Gurlitt 1944/1966). Wenn Quellen aus Italien oder Frankreich, wo eine viel größere rhetorische Tradition bestand als in den deutschen Landen, keine Figurenkataloge enthalten, so deshalb, weil dort jeweils andere Diskurse geführt wurden, deren Ausgangspunkte und Ziele damals nicht weiter untersucht worden sind. Sie hätten womöglich das Modell der geistigen, protestantischen, norddeutschen Überlegenheit ins Wanken gebracht.
Die gesamte Affektenlehre, einschließlich der Figuren, ist im Sinne des 17. Jahrhunderts rational. Sie gilt als Handwerkszeug zur Herstellung wirkungsvoller Musik. Rhetorik bietet ein Fachvokabular, das zur Analyse wirkungsvoller Strategien herangezogen worden ist. Damit gehören auch die einzelnen Figurenkataloge ins Fach der Ratgeberliteratur beziehungsweise Bauanleitungen für wirkungsvolle Stücke. Daß die historischen Kataloge so unterschiedlich ausfallen, liegt einmal in dem historischen Zeitraum von 150 Jahren und zum zweiten in epistemologischen Ursachen begründet. Zwar bildeten Autoren des 16. bis 18. Jahrhunderts ihre Erkenntnisse gerne in umfangreichen Systemen ab. Doch ihre Systemtheorie ist oft individuell geprägt und nicht immer mit anderen Systemen kompatibel. Daher muß für jede Quelle die Bedeutung und Anwendung von Figuren erst bestimmt werden. Dagegen richten sich unsere heutigen Bedürfnisse darauf, die musikalischen Eigengesetzlichkeiten der vorliegenden Werke in einer vereinheitlichten Konvention historisch adäquat benennen zu können. Dazu braucht man eine analytische Kunst- oder Metasprache, die erstens die Komplexität der Einzelbeispiele reduziert und formalisiert, zweitens begrifflich möglichst eindeutig und drittens pragmatisch anwendbar ist. Die Figurenlehre gibt das allerdings nicht her. Um mit Figuren operieren zu können, müßte ihr Gebrauch im historischen Kontext zunächst analysiert werden.
Literatur
Dahlhaus, Carl (1954), »Die Figurae superficiales in den Traktaten Christoph Bernhards«, in: Kongressbericht Bamberg 1953, Kassel etc., 135–138.
Dahlhaus, Carl (1989), »Figurenlehre und freier Satz«, in: Die Musiktheorie im 18. und 19. Jahrhundert, Zweiter Teil. Deutschland, hg. v. Ruth E. Müller (= Geschichte der Musiktheorie 11), Darmstadt, 140–145.
Eggebrecht, Hans Heinrich (1979), »Zur Methode der musikalischen Analyse«, in: Sinn und Gehalt, Aufsätze zur musikalischen Analyse, Wilhelmshaven, 7–42
Forkel, Johann Nikolaus, Allgemeine Geschichte der Musik, 2 Bde, Leipzig 1788 u. 1801, ND Graz 1967.
Gurlitt, Wilibald (1944/66), »Musik und Rhetorik. Hinweise auf ihre geschichtliche Grundlageneinheit« [1944], in: ders., Musikgeschichte und Gegenwart, hg. v. Hans Heinrich Eggebrecht, 2 Bde, Wiesbaden, 62–81.
Klassen, Janina (2001), »Musica Poetica und Musikalische Figurenlehre – ein produktives Missverständnis«, in: Jahrbuch des Staatlichen Instituts für Musikforschung Preußischer Kulturbesitz, hg. v. Günther Wagner, Stuttgart, Weimar, 73–83.
Klassen, Janina (2006), »Klang-Rede und musikalische Syntax«, Musik & Ästhetik 41, 2007, 43–61.
Kloppenburg, Josef (2000), »Multimediale Verbindungen: Klingende Bilder«, in: ders. (Hg.), Musik multimedial – Filmmusik, Videoclip, Fernsehen, Laaber (= Handbuch der Musik im 20. Jahrhundert 11)
Kretzschmar, Hermann (1911/12), »Allgemeines und Besonderes zur Affektenlehre«, Jahrbuch Peters XVIII/XIX.
Meier, Bernhard (1974), Die Tonarten der klassischen Vokalpolyphonie, Utrecht.
Schering, Arnold (1908), »Die Lehre von den musikalischen Figuren«, Kirchenmusikalisches Jahrbuch, 106–144.
Schumann, Robert (1837), Gesammelte Schriften über Musik und Musiker, Leipzig 1854, 5. Aufl. hg. v. Martin Kreisig, Leipzig 1914.
Schweitzer, Albert (1905), J.S. Bach, le musicien poète [dt. Wiesbaden 1908], Paris.
Hochschule für Musik Freiburg [University of Music Freiburg]
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