Populäre Musik als Gegenstand musikalischer Analyse
Billy Joels New York State Of Mind
Martin Schönberger
Insbesondere in der deutschsprachigen Popularmusikforschung sind seit jeher soziologisch und psychologisch geprägte Ansätze vorherrschend gewesen, deren Interesse den äußerst komplexen gesellschaftlichen Funktions- und Wirkungszusammenhängen von Rock- und Popmusik gilt. Strittig ist, ob Rockmusik strukturanalytisch in den Blick zu nehmen überhaupt als dem Gegenstand angemessen gelten kann. Nicht zuletzt hieraus resultiert eine immer noch vergleichsweise starke Zurückhaltung des dezidiert musiktheoretischen Diskurses im Bereich populärer Musik.
Mit der hier vorgelegten Untersuchung des Songs New York State Of Mind von Billy Joel wird der These, daß populäre Musik strukturell nicht interessiere, nicht nur prinzipiell widersprochen, mehr noch, es finden vorwiegend solche analytischen Ansätze Verwendung, die von der Beschäftigung mit traditioneller Kunstmusik her erprobt sind. Dieses Vorgehen versucht zu verdeutlichen, daß die tonalen Schemata der traditionellen Kunstmusik eine Anpassung an Idiom und Verfahrensweise populärer Musik erfahren, die als ›strukturell‹ interessant gelten darf, weil populäre Musik als ›klangliches Ereignis‹ sich nicht im Moment des ›Sounds‹ erschöpft.
What to listen for in Rock– der Titel eines Buches von Ken Stephenson[1], das sich der Aufgabe stellt, einen Überblick über die derzeit gebräuchlichen Ansätze zur Analyse der Rock- und Popmusik zu geben, stellt die entscheidende Frage jeder musikalischen Analyse – die nach den ästhetisch relevanten Momenten des untersuchten Gegenstandes. Ihre Beantwortung stellt im Bereich der populären Musik eine besondere Herausforderung dar, denn keineswegs ist unumstritten, daß die von Stephenson behaupteten Kategorien, welche allesamt strukturelle Aspekte von Rockmusik in den Blick nehmen[2], überhaupt als gegenstandsadäquat gelten können.[3] Die Kontroverse wurzelt in Unterschieden des Musikbegriffs. Insbesondere in der deutschsprachigen Popularmusikforschung sind seit jeher soziologisch und psychologisch geprägte Ansätze vorherrschend gewesen, deren Interesse den komplexen gesellschaftlichen Funktions- und Wirkungszusammenhängen von Rock- und Popmusik gilt.[4] Nicht zuletzt hieraus resultiert eine immer noch deutliche Zurückhaltung des musiktheoretischen Diskurses im Bereich populärer Musik.[5] Als deren offenkundigste Folge kann die Vielzahl terminologischer Unschärfen im Vokabular der musikalischen Analyse gelten.
Nun ist der Hinweis darauf, Musik stehe in diversen ›Kontexten‹, weder neu, noch wird hier etwas benannt, auf das populäre Musik alleine einen Anspruch erheben könnte. Allenfalls scheint es, als ob der sich generell abzeichnende Paradigmenwechsel innerhalb der Musikwissenschaft – von der ›Geistes‹- zur ›Kulturwissenschaft‹ – im Bereich der Popularmusikforschung besondere Konjunktur hat. Nicht bezweifelt werden muß, daß Musik ›medialen Charakter‹ in bezug auf die Vermittlung gesellschaftlicher Prozesse besitzt, und unentschieden bleiben darf, ob dies für die populäre Musik in höherem Maße zutrifft als für die traditionelle ›E-Musik‹.[6] Jede Kontextualisierung aber setzt einen Text voraus. Die These, das klanglich Wahrnehmbare sei für den popularmusikalischen Diskurs nachrangig und werde erst durch wie auch immer geartete ›Kontexte‹ seiner eigentlichen Funktion zugeführt, droht dies zu übersehen.[7] Der Forderung nach Aufdeckung sozialer und psychischer Mechanismen im Bereich der populären Musik kann durch die Marginalisierung ihrer ›formalen‹ Seite nicht Rechnung getragen werden.
Freilich ist damit noch nicht beantwortet, welche strukturanalytischen Kategorien im Bereich populärer Musik mit Erfolg zur Anwendung gebracht werden können. In der vorgelegten Untersuchung wird die Forderung, es müsse bei der Analyse populärer Musik zu einer grundlegenden ästhetischen Neubewertung des Verhältnisses zwischen ›primären‹ und ›sekundären‹ bzw. ›harten‹ und ›weichen‹ musikalischen Parametern kommen, da die Kategorie des ›Sounds‹ die allein angemessene technische Beschreibungsdimension sei[8], nicht geteilt. Dies zeigt sich in der Einschätzung der Bedeutung des Notentextes für die Analyse. Entscheidend ist nicht, ob der Notentext Ausgangspunkt einer ›Aufführung‹ im Bereich popularmusikalischer Praxis ist, sondern ob sich in den Transkriptionen Strukturen auffinden lassen, die für das ›Hören‹ bedeutsam sind.[9] Daher darf die Form des Notentextes nicht zur ausschließlichen Voraussetzung dafür gemacht werden, über welche Aspekte des Klanglichen sinnvoll gesprochen werden kann.[10] Wenn im folgenden – wie zumeist im Bereich der populären Musik – auf der Grundlage einer Transkription argumentiert wird, dann im Bewußtsein der damit verbundenen Einschränkungen. Bereits ein erster Vergleich mit einer der vorliegenden Einspielungen oder Mitschnitte von New York State Of Mind würde zeigen, daß wesentliche klangliche Ereignisse in der Transkription keine Berücksichtigung finden – nicht zuletzt aufgrund der fehlenden Möglichkeit exakter Notation. Und doch stellen die mittels Transkription wiedergegebenen harmonischen Progressionen, der Verlauf der Gesangslinie, die Taktgruppenordnung und der formale Aufbau ein musikalisches Substrat dar, das nicht in den Bereich des Akzidentiellen fällt.
New York State Of Mind[11]
Die Strophe (verse)
In der Transkription, die dieser Analyse zugrunde liegt[12], bilden die Takte 1 bis 4 eine ›Intro‹. Dieser Abschnitt kehrt als Zwischenspiel zwischen den einzelnen Strophen unverändert wieder. Da die Strophe trugschlüssig in der VI. Stufe endet, die Intro ihrerseits auf der VI. Stufe anhebt, können die Takte 1–4 resp. 19–22 unmittelbar anschließen und in den tonikalen Beginn der Strophe zurückleiten. Bei der Fortführung in die ›Bridge‹ entfällt dieses Moment der Rückleitung: das Ende der Intro wird so modifiziert, daß die VI. Stufe prolongiert erscheint. Ende der Strophe und Wiederaufnahme der Intro sind auch hier phrasenverschränkt.
Beispiel 1: Billy Joel, New York State Of Mind, T. 1–4 und 19–22
Die Strophe selbst weist eine zwei- bzw. dreiteilige Anlage auf: Takt 13 kehrt sowohl melodisch als auch harmonisch zum Beginn zurück; der gesamte Formteil schließt in Takt 19. Die ersten acht Takte der Strophe lassen sich nochmals in zwei Viertakter gliedern, die sich bis auf den jeweils letzten Takt entsprechen: Die Takte 9 bis 11 stehen als Transposition der Takte 5 bis 7 eine Quarte höher.
Beispiel 2: Billy Joel, New York State Of Mind, T. 5–11
Die gesamte Strophe zeigt eine auffällige Nähe zum syntaktischen Modell des ›klassischen Satzes‹: der ›Grundidee‹[13] des ersten Viertakters folgt deren transponierte Wiederholung, die aufgrund der Silbenzahl des Textabschnittes melodisch leicht variiert ist. Beide Abschnitte bilden eine achttaktige Präsentationsphrase. Ein erneutes, nunmehr verkürztes Erscheinen der Grundidee in T. 13 markiert als ›Fortspinnung‹ den Beginn des Entwicklungsteils. Ein auf drei Takte verkürzter Kadenzteil schließt sich unmittelbar an, wodurch die gesamte Strophe fünfzehn statt der regulären sechzehn Takte zählt. Präsentation wie Transposition der Grundidee im Vordersatz erweisen sich bei näherer Betrachtung als kontinuierliche Fortführung eines Sequenzmodells, einer gebräuchlichen chromatischen Variante des sogenannten ›Dur-Moll-Parallelismus‹.[14]
Beispiel 3: ›Dur-Moll-Parallelismus‹
Das satztechnische Modell eines fallenden diatonischen ›Dur-Moll-Parallelismus‹ ergibt sich aus der alternierenden Folge von harmonischem Quint- und Sekundstieg in Grundakkorden.[15] Infolge einer Zirkelbildung kann die Sequenz mit der Folge IV-I enden. Im Song markiert aber der Eintritt der IV. Stufe bereits den Beginn der transponierten Grundidee. Diese führt von der F-Stufe über die A-Stufe zur d-Stufe.
Im Außenstimmensatz des Modells wechseln Terz und Quinte. In der chromatischen Variante wird jede Quinte durch Alteration von Oberstimme oder Baß vermindert. Dieser verfärbte ›Diskant-Baß-Gerüstsatz‹ erlaubt jeweils die Setzung eines ›zwischendominantischen‹ (Quint-)Sextakkordes. Jeder harmonische Terzfall innerhalb der Sequenz wird hierdurch mittels eines kadenziellen Schritts eingeführt.
Beispiel 4: Chromatisierung des ›Parallelismus‹
In New York State Of Mind allerdings erfolgt die Zwischendominante zur II. Stufe nicht als Quintsextakkord, sondern in Grundstellung.[16] Analog verhält sich die Transposition der Takte 9 bis 12. Dabei erscheint die III. Stufe e-Moll zu einer Zwischendominante der IV. Stufe modifiziert. Zusätzlich wird die Zwischenkadenz um die ›Prädominante‹ g-Moll, als II. Stufe in F-Dur, erweitert. Die Taktgruppenbildung wird hierdurch nicht berührt, es kommt zu einer vorübergehenden Beschleunigung des harmonischen Tempos in T. 8. Die erweiterte Kadenz verdeutlicht den formalen Einschnitt am Ende der Grundidee und zielt auf den Beginn der Transposition.
Beispiel 5: Billy Joel, New York State Of Mind, harmonischer Auszug T. 1–8
Im nachfolgenden Notenbeispiel wird die satztechnische Grundlage des chromatisierten Dur-Moll-Parallelismus für die Takte 5 bis 12 noch einmal verdeutlicht.
Beispiel 6: Billy Joel, New York State Of Mind, harmonische Chiffrierung T. 5–11
In T. 12 erscheint eine überraschende, scheinbar auf Es-Dur zielende, VII-V-Verbindung, welche jedoch in den tonikalen Beginn des Nachsatzes führt. Die formfunktionale Analogie zu T. 8 ist evident, jedoch handelt es sich weder um die kontinuierliche Fortsetzung der Sequenz, noch um eine harmonische ›Ellipse‹, bei der ein zwischendominantischer Akkord der F-Stufe als ausgelassen gelten müßte. Aus Sicht des ›Diskant-Baß-Gerüstsatzes‹ und seines alternierendem Wechsel zwischen Terz und Quinte im Außenstimmensatz wird vielmehr der 4. Ton im ›Diskant‹ mit einer Terz als auch einer Quinte fundiert, damit der offenkundig beabsichtigte Zirkelschluß in die Tonika mit T. 13 erfolgen kann.
Beispiel 7: Billy Joel, New York State Of Mind, Gerüstsatz T. 1–13
Dieses Verfahren resultiert daraus, eine ungeradzahlige Tonleiter, wie es jede diatonische ist, mit einem zweigliedrigen Sequenzmodell auszustufen. Die zusätzliche Verfärbung der Quinte steht der tonalen Konvention entgegen: die reguläre Dominante als Bestandteil einer zur I. Stufe zurückführenden II-V-I-Verbindung wird durch die tiefalterierte VII. Stufe ersetzt, ohne daß die charakteristische Akkordstruktur des kleinen Durseptakkordes aufgegeben würde: Der Hintergrund des Satzmodells hilft so zu erläutern, weshalb der B7 ein funktionales Äquivalent des G7 darzustellen vermag. Die tiefalterierte VII. Stufe erscheint ihrerseits mittels einer VII-II-Verbindung in bezug auf die implizierte Parallele der Mollvariante, Es-Dur, zwischenkadenziell überformt.
Beispiel 8: Billy Joel, New York State Of Mind, harmonische Skizze zu T. 12
Gemessen am ›Diskant-Baß-Gerüst‹ des Satzmodells, beruhen die ersten neun Takte der Strophe auf der Harmonisation einer Tonleiter von e'' bis e'. Die Terzlage der I. Stufe ist Ausgangs- und Zielpunkt der Bewegung. Die dadurch hervorgebrachte ›Kopfnote‹ e'' ist Korrelat der prolongierten Anfangstonika – eine in ›klassischen Sätzen‹ übliche Formfunktion des Vordersatzes.
Beispiel 9: Billy Joel, New York State Of Mind, harmonischer Verlauf und Tonleitermodell, T. 1–13
Bei der Betrachtung der Gesangsstimme fällt im Vergleich zum ›hintergründigen‹ Harmoniemodell auf, daß sich der Ambitus der Melodie jeweils auf nur auf einen Terzzug beschränkt: e'', d'' und c'' bilden die melodische Grundidee und entsprechend a'', g'' und f'' ihre Transposition. Die Relation zwischen Terzzug und zugeordnetem Dreiklang im Harmoniegerüst wechselt durch das Fortschreiten der Sequenz: c'' und e'' werden von Grundton und Terzton des Ausgangsklangs (I. Stufe) zu Terz und Quinte des Zielklangs (VI. Stufe). Harmonische und melodische Sequenz sind nicht deckungsgleich: Die harmonische Sequenz erfolgt mittels zweitaktiger Glieder, die melodische mittels viertaktiger. Um einen Registerausgleich herbeizuführen und die Gesangsstimme mit der fallenden Sequenz nicht in eine unsangliche Tiefe zu führen, erfolgt ab der IV. Stufe eine ›Höherlegung‹. Damit wird die ›obligate Lage‹ nicht verlassen.[17]
Beispiel 10: Billy Joel, New York State Of Mind, harmonische Chiffrierung T. 5–8
Durch die Gruppierung der melodischen Sequenzbildung wird die IV. Stufe in T. 9 besonders hervorgehoben. Demgegenüber wirkt die VI., wie nachfolgend die II. Stufe untergeordnet. Bedenkt man, daß das traditionelle Blues-Schema in seinen ersten acht Takten, nach einem viertaktigen tonikalen Beginn, den ersten Stufenwechsel im fünften Takt mit einer Bewegung zur IV. Stufe vorsieht, erscheint es mit Blick auf die Vortragsbezeichnung with a blues feel durchaus nicht unangemessen zu behaupten, daß die von Joel vorgenommene Einrichtung des Dur-Moll-Parallelismus diesem originären Formmodell der Popularmusik Rechnung trägt.[18] Dafür spricht nicht zuletzt der im Rahmen der Kadenz T. 18 verzögerte Eintritt der Dominante, der, nachdem in T. 16 bereits die Doppeldominante erreicht ist, in Umkehrung der regulären Kadenzfolge in T. 17 nochmals die IV. Stufe vorangestellt wird: die Folge IV-V-I-I ist die herkömmliche Abfolge am Ende des zwölftaktigen Blues-Schemas. Allerdings erscheint diese Folge um die Wiederholung der I. Stufe verkürzt und durch den Einschub der Takte 13 bis 16 verzögert. Die im regulären Blues-Schema sich bereits innerhalb der zweiten Viertaktgruppe ereignende Rücknahme des harmonischen Ausfallschritts I-IV verlagert sich auf den Beginn des Nachsatzes: Die auf sechzehn Takte zielende Anordnung des ›Satzes‹ unter Verwendung des Dur-Moll-Parallelismus erklärt, weshalb die regulär zwölftaktige Anordnung des Blues-Schemas erweitert erscheint.
Angesichts der sich durch diese Überblendung ergebenden Sonderstellung der Takte 13 bis 16 überrascht es nicht, daß auch sie auf demselben Modell des chromatischen Dur-Moll-Parallelismus basieren wie bereits der Vordersatz. Drei markante Modifikationen sind allerdings zu beobachten. Zunächst wird die Baßlinie stufenweise geführt. Dadurch erscheinen die vormalig nur als Grundakkorde gesetzten Harmonien nunmehr unter Verwendung von Terz-Quart- bzw. Sextakkorden. Ferner erfolgen die Stufenwechsel nun nicht mehr taktweise wie im Vordersatz, sondern halbtaktig. Auf diese Art ereignet sich eine gemäß der traditionellen Formenlehre für den Beginn des Nachsatzes charakteristische ›Verdichtung‹, die hier als Beschleunigung des harmonischen Tempos erfahrbar wird: Die drei Terzfälle von der I. über die VI. und von der IV. in die II. Stufe ereignen sich in vier statt in acht Takten. Zusätzlich werden harmonische Varianten durch Zusatztöne oder mittels veränderter Vorzeichnung gewonnen. Bemerkenswert erscheinen der simultane Gebrauch von diatonischer und chromatischer Form in T. 13.2; die Substitution der diatonischen III. Stufe T. 14.3 durch einen tonikalen Septakkord – der jedoch die vom Modell geforderte III. Stufe in sich aufnimmt und dadurch weniger eindeutig einer Stufe zuzuordnen ist als seine Klassifizierung gemäß der Terzschichtung glauben machen will; und nicht zuletzt die Hochalteration der Terz in der II. Stufe in T. 16, welche – wie bereits erwähnt – einen doppeldominantischen Klang hervorbringt. Diese Bildung wirkt um so überraschender, als im vorausgehenden tonikalen Sextakkord auf die aus dem Vordersatz bekannte Alteration von c zu cis im Rahmen der dominantischen Vorbereitung der II. Stufe verzichtet wird.
Beispiel 11: Billy Joel, New York State Of Mind, harmonische Chiffrierung T. 13–19
Die Doppeldominante T. 16 geht mit einer rhetorischen Zäsur einher. Dann endet die Strophe mittels der trugschlüssigen Wendung IV-V-VI. Der Kadenzteil fällt dabei in das ganztaktige harmonische Ausgangstempo des Strophenbeginns zurück. Die Sentenz des Textes – I’m in a New York State of mind – erscheint auf diese Art besonders pointiert.
Die Bridge
Der sich an die Strophe anschließende Abschnitt der ›Bridge‹[19] arbeitet mit einem weiteren, für das Genre der Popularmusik äußerst prominenten harmonischen Gerüst – der Aneinanderreihung mehrerer II-V-I-Verbindungen zu einer erweiterten Quintfallsequenz. Im folgenden Notenbeispiel werden die Stufengänge der Übersichtlichkeit halber auf die jeweilige Zwischentonika bezogen, die aufgrund der metrischen Stellung und Dauer zusätzliches Gewicht erhält.
Beispiel 12: Billy Joel, New York State Of Mind, T. 25–32
An den Nahtstellen zwischen den einzelnen II-V-I-Verbindungen erfolgen jeweils Vermollungen, um eine leitereigene II. Stufe für die nachfolgende Zwischenkadenz zu gewinnen. Eine erste Paarung zweier II-V-I-Verbindungen führt in den Takten 25 bis 32 von a-Moll nach F-Dur.
Beispiel 13: Billy Joel, New York State Of Mind, harmonischer Verlauf, T. 25 – 32
Dieser Ablauf wird in den Takten 33 bis 40 transponiert. Ausgangspunkt ist nun Hm7. Der gesamte Satz ›rutscht‹ dadurch einen Ganzton nach oben. F und Hm7 schließen unmittelbar aneinander an. Durch diesen Anschluß wird am Ende der Transposition G-Dur und damit die Dominante erreicht. Insofern bereits die erste der insgesamt vier II-V-I-Verbindungen auf G-Dur zielte, kann der gesamte Formteil als ›Auskomponierung‹ der Dominante gelten und kommt damit einer durchaus traditionellen harmonischen Disposition von ›Mittelteilen‹ in mehrteiligen Formen tonaler Musik nach.
Beispiel 14: Billy Joel, New York State Of Mind, harmonischer Verlauf, T. 33– 40
Um vom Ende der Bridge in die Tonika zu Beginn der Strophe zurückzugelangen, greift Joel abermals auf die II-V-I-Verbindung zurück: Unmittelbar nach Abschluß der Transposition erscheint ein Dm7, wodurch dem zuvor erreichten Gmaj7 die vergleichsweise starke tonikale Wirkung sofort wieder entzogen wird. Die Takte 41 bis 42 leiten damit die Rückmodulation nach C-Dur ein. Der Eintritt des Dm7 mutet archaisch, beinahe modal an. Er erinnert nicht zuletzt in Verbindung mit der auffälligen Realteration von fis zu fan den Schnitt von T. 16 zu T. 17, an den Übergang von Fortspinnung zu Kadenzteil innerhalb der Strophe. Erst der nachfolgende Gsus stellt die sG-Funktion[20] des Dm7 eindeutig klar.
Beispiel 15: Beispiel 13: Billy Joel, New York State Of Mind, harmonischer Verlauf, T. 41f.
Coda
An die Bridge schließt sich nahtlos zunächst wieder eine Strophe (vokal/instrumental) an. Anders als zwischen den Strophen erfolgt nun kein Zwischenspiel. Nach der letzten Strophe »Comes down to reality […]« entfällt die Bridge. Statt dessen folgt unmittelbar die ›Outro‹. Allerdings ähnelt diese keineswegs dem Vor- bzw. Zwischenspiel. Vielmehr lassen sich die Takte 43 bis 49 als Zusammenfassung, als Synthese von Strophe und Bridge verstehen. Der Beginn der Coda fällt – analog zu Zwischenspiel und Strophe – mit dem Ende der Strophe zusammen: Auch diese beiden Phrasen werden miteinander verschränkt. Ein Vergleich der Takte 43 bis 45 mit den Takten 5 bis 7 zeigt, daß beiden Abschnitten abermals der chromatisierte Dur-Moll-Parallelismus zugrunde liegt.
Beispiel 16: Billy Joel, New York State Of Mind, Vergleich T. 43–45 und T. 5–7
Doch kaum wähnt sich der Hörer harmonisch am Anfang der Strophe, überrascht Joel in T. 46 mit einem erneuten B7. Dieser Klang war bislang nur einmal in Erscheinung getreten und zwar als funktionales Äquivalent der Dominante im Übergang von Vordersatz zu Nachsatz innerhalb der Strophe in T. 12. Auf einen analogen funktionalen Zusammenhang verweist die nachfolgende Auflösung, die als Sextakkord über Es im Baß merkwürdig ambivalent zwischen der Mollvariante der Tonika in erster Umkehrung – gemäß der Terzschichtung des Akkordes – und der Parallele der Mollvariante mit Sexte statt Quinte – gemäß der Kadenzbewegung des Basses – steht. Die übergeordnete Bewegung mit den Fundamentschritten B-Es-As-D entscheidet zugunsten der zweiten Sichtweise. Die Fundamentschritte zitieren nochmals jenes technisch-stilistische Mittel, auf welchem der Mittelteil des Songs im wesentlichen beruht hatte. Damit sind in der Coda die beiden den Song wesentlich prägenden satztechnischen Modelle vertreten: Der chromatisierte Dur-Moll-Parallelismus wird in eine abschließende Quintfallsequenz überführt.
Schließlich spielt Joel ganz am Ende seinen Joker aus: Nachdem die Quintfallsequenz in ihren ersten Schritten regelmäßig fortschreitet, wird ausgerechnet an der Stelle (T. 48/49), wo mit Erreichen der diatonischen II. Stufe die Alterationen, die mit der B-, Es, und As-Stufe einhergingen, rückgängig gemacht sind und der Eintritt der Schlußkadenz erwartet werden kann, der Hörer noch ein weiteres und letztes Mal überrascht.
Beispiel 17: Billy Joel, New York State Of Mind, harmonischer Verlauf, Schluß
Unmittelbar vor dem tonikalen Schlussakkord ist statt der regulären Dominante ein Dominantseptakkord über dem tiefalterierten 2. Baßton gesetzt. Dieser Akkord substituiert im Rahmen einer ›phrygischen Wendung‹ den regulären Dominantklang. Bekanntlich wird dieser Sachverhalt auch als ›Tritonussubstitution‹ bezeichnet.[21] Diese Wendung schlägt einen Bogen zurück zur Bridge. Die unmittelbare Folge von F-Stufe und h-Stufe, die dort an der Schnittstelle zwischen erster und zweiter Quintfallsequenz steht (T. 32/33), kann ebenfalls als Folge einer Tritonussubstitution verstanden werden – nur, daß hier regulärer Klang und Substitut direkt nebeneinander zu stehen kommen. In der Konsequenz dieser Überlegung wäre der dortige A-Klang als ein Substitut für den Es-Klang, der dortige G-Klang als ein Substitut des Des-Klangs anzusehen. Diese Einschätzung gewinnt nicht zuletzt dadurch zusätzliche Plausibilität, daß bei konsequenter Fortführung der realen Quintfallsequenz in Anschluß an die F-Stufe (T. 32f.) eine über Es nach Des führende Progression zustande käme – als Folge davon, daß eine reale Quintfallsequenz, die aus II-V-I-Verbindungen besteht, mit vier Sequenzgliedern den Raum dreier Ganztöne, also einen Tritonus, ausschreitet.
Beispiel 18: Billy Joel, New York State Of Mind, hypothetischer harmonischer Verlauf, T. 25 – 40
Abschließend ließe sich daher behaupten, daß jene ›tiefe‹ harmonische Region, die erstmals durch den B7 in T. 12 ins Spiel gebracht wurde und in der Konsequenz der realen Quintfallsequenz der Bridge gelegen hätte, dort aber infolge des Tritonussubstituts außen vor blieb, als Schlußpointe des Stückes im Gefolge des erneuten B7 doch noch erklingt – auch dies with a blues feel.
Resümee
Die Untersuchung des Songs New York State Of Mind von Billy Joel verdeutlicht, daß Kompositionen aus dem Bereich des ›Classic Rock‹ zahlreiche Momente aufweisen, in denen die tonalen Schemata der traditionellen Kunstmusik eine ›Anpassung‹ an Idiom und Verfahrensweise populärer Musik erfahren. Diese, das war zu zeigen, konnte hier als ›strukturell‹ interessant behauptet werden, weil populäre Musik als ›klangliches Ereignis‹ sich nicht im Moment des ›Sounds‹ erschöpft.
Folge der ›Anpassung‹ ist, daß traditionell geprägten Hörern gestattet wird, vertraute Struktureigenschaften wiederzufinden.[22] Dieser Befund erscheint zunächst wenig spektakulär. Das Ergebnis der Analyse wäre jedoch unvollständig wiedergegeben ohne den Hinweis darauf, daß die Schemata der Kunstmusik nicht schlicht bedient, sondern auf spezifische Weise abgewandelt erscheinen. Sie gehen eine eklektische Verbindung mit originären Elementen aus dem Vokabular der populären Musik ein, im vorliegenden Beispiel vorzugsweise des Blues.[23]
Anmerkungen
Stephenson 1991. | |
Stephenson verfolgt keinen dezidierten Ansatz, sondern stellt grundlegende Kategorien bereit, die er anhand diverser Literaturbeispiele diskutiert. Kapitelweise abgehandelt werden auf diese Weise »phrase rhythm«, »scales«, »key determination«, »cadences«, »harmonic palette and succession« und »form«. Die Beispiele stammen überwiegend aus dem Bereich des ›Classic Rock‹: The Beatles, Emerson, Lake and Palmer, Kansas u.a. | |
So beispielsweise Wicke 2003. | |
Einen guten Überblick hierzu bieten Rösing, Schneider, Pfleiderer 2002. | |
Neben zahllosen anwendungsorientierten Publikationen finden sich nur vereinzelt Beiträge mit wissenschaftlichem Anspruch. So liegt beispielsweise die nach wie vor grundlegende Veröffentlichung zur Harmonieanalyse in der Rockmusik, Volkmar Kramarz 1983, bereits mehr als zwanzig Jahre zurück. | |
Jedenfalls ist das Bild des sich kontemplativ über eine Partitur später Beethovenscher Streichquartette beugenden ›strukturellen Hörers‹, sofern es überhaupt jemals Relevanz besaß, in Zeiten der ›Eventkultur‹ nicht mehr geeignet, den entscheidenden Gegensatz zwischen ›E‹ und ›U‹ zu benennen. | |
Auf diese Problematik hingewiesen hat bereits Ralf von Appen 2004 in seiner Rezension von Rösing, Schneider, Pfleiderer 2002 in FZMw Jg. 7, 20–26. | |
Wicke 2003. | |
In diesem Sinne auch Moore 1992. | |
Daß die Partitur im modernen Sinne kein Instrumentarium für die Komponisten des 15. Jahrhunderts bildete, bedeutet nicht, daß es für die Kontrolle vertikaler klanglicher Ereignisse in notierten oder improvisierten Musiken dieser Zeit keine Kriterien gegeben hätte. | |
Eine kurze Anekdote zur Entstehungsgeschichte von »New York State Of Mind«, die sich nach Billy Joels eigener Aussage auf 20 Minuten reduzieren läßt, besagt: Nachdem die Erfolge seiner Songs sich auf den Künstler zunehmend hemmend auswirkten, so daß er »kaum mehr eine Note zu Papier« brachte, setzte die Rückkehr an die Ostküste der USA, »ungeahntes Potential […] frei. So erzählte er [Joel] später, wie das Lied New York State Of Mind entstanden sei: ›Wir kamen in unsere neue Wohnung in New York, und ich setzte mich sofort ans Klavier. Innerhalb von 20 Minuten war der Song fertig.‹« (Seibold 1993, 23) | |
Der Analyse liegt folgendes Notenmaterial zugrunde: Billy Joel Complete Works Vol. 2 (1991), Milwaukee (WI): Hal Leonard Publishing Corporation. | |
Diese Terminologie nach Caplin 1998. | |
Dieser Begriff nach Carl Dahlhaus 1967. | |
Sowohl Begriff wie ›harmonische‹ Herleitung erscheinen beim ›Dur-Moll-Parallelismus‹ prekär. Nach Dahlhaus’ eigener Definition sind die »charakteristischen Schemata der tonalen Harmonik« – zu denen er neben dem ›Dur-Moll-Parallelismus‹ auch ›vollständige Kadenz‹ und ›Quintschrittsequenz‹ zählen – in »satztechnischen Formeln des 16. und des frühen 17. Jahrhunderts vorgebildet.« (Dahlhaus 1967, 92) Wohl nicht zuletzt in Ermangelung einer historischen Begrifflichkeit unterbleibt aber der Versuch einer Namensgebung jenseits des tonalen Kontextes. | |
Mit Sicht auf das ›Diskant-Baß-Gerüst‹ ist nicht der Grundakkord die originäre Form des Akkordes, sondern der Quintsextakkord – der vermeintliche ›Grundakkord‹ vielmehr eine Ableitung. | |
Auch dieses Verfahren weist eine Nähe zu klassischen Vorbildern auf. Im Kopfsatz von W. A. Mozarts Klavierkonzert G-Dur KV 453 beruht das Thema des Seitensatzes trotz eines leicht unterschiedlichen Stufengangs auf derselben Gegenläufigkeit von melodischer und harmonischer Sequenz. | |
Der Verdeutlichung der übergeordneten harmonischen Pendelbewegung zwischen I. und IV. Stufe dient die Balkensetzung in der Oberstimme in Notenbeispiel 9. ›Züge‹ im Sinne der Theorie Heinrich Schenkers sind hier nicht gemeint. | |
Zum Formbegriff vgl. Stephenson 1991, 137f. | |
Zur verwendeten Terminologie vgl. http://www.freenet.de/Gegenklang, [Stand: 12.06.2006] | |
»Die Möglichkeit, eine Dominante […] durch den tritonusentfernten Akkord zu ersetzen, heißt Tritonussubstitution. Im Baß entsteht dadurch ein halbtöniger Anschluß, der sogenannte chromatic approach, den […] Bassisten oft auch dann spielen, wenn der Akkord selbst nicht chiffriert ist. Die alterierte Dominante und ihre Tritonussubstitution besitzen […] das gleiche Tonmaterial: die melodische Molltonleiter. Der Baßton entscheidet darüber, welcher Skalenbestandteil als Grundton gehört wird.« Zit. nach: Dings, Manfred (2004), Elementare Jazzharmonik am Klavier, S. 15f. (http://www.partiturspiel.de, [Stand: 12.06.2006]) | |
Bei ähnlichem Befund kommt Walter Everett (2000) zu einer anderen Schlußfolgerung. Everetts These ist, daß Joel je nach vertontem Text zwischen einem »umgangssprachlichen« und einem »erlernten« Vokabular bewußt zu wählen wisse. Everett hinterfragt jedoch nicht, inwieweit beide Momente sich auf eine tiefer reichende Traditionsgrundlage beziehen. Everetts und diesem Beitrag aber ist gemein, daß von ihnen eine rezeptionsästhetische Dimensionierung strukturanalytischer Befunde ihren Ausgang nehmen könnte, die zu einer ›Versöhnung‹ der vorherrschenden soziologisch und wahrnehmungspsychologisch ausgerichteten Hermeneutik mit dem strukturanalytischen Ansatz beitrüge. | |
Hier gilt es allerdings zu konzedieren, daß das sogenannte ›Blues-Schema‹ seinerseits bereits als Ergebnis der Konfrontation afroamerikanischer Musikformen mit der europäischen Mehrstimmigkeit am Ausgang des 19. Jahrhunderts gelten darf. |
Literatur
Caplin, William E. (1998), Classical Form. A Theory of Formal Functions for the Instrumental Music of Haydn, Mozart, and Beethoven, London/New York: Oxford University Press.
Dahlhaus, Carl (1967), Untersuchungen über die Entstehung der harmonischen Tonalität, Kassel: Bärenreiter.
Everett, Walter (2000), »The learned vs. the vernacular in the songs of Billy Joel«, Contemporary music review 18, 105–129.
Kramarz, Volkmar (1983), Harmonieanalyse der Rockmusik. Von Folk und Blues zu Rock und New Wave, Mainz: Schott.
Moore, Allan F. (1992), Rock: The Primary Text. Developing a Musicology of Rock. Popular Music in Britain, Berkshire: Open University Press.
Rösing, Helmut, Schneider, Albrecht, Pfleiderer, Martin (2002), Bestandsaufnahme (= Hamburger Jahrbuch für Musikwissenschaft 19), Frankfurt/M.: Peter Lang.
Seibold, Jürgen (1993), Billy Joel, Wien: Paul Zsolnay Verlag.
von Appen, Ralf (2004), Rezension zu Helmut Rösing, Albrecht Schneider, Martin Pfleiderer 2002, FZMw Jg. 7, 20–26.
Wicke, Peter (2003), »Popmusik in der Analyse«, Acta Musicologia Vol. LXXV, 107–126.
Dieser Text erscheint im Open Access und ist lizenziert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz.
This is an open access article licensed under a Creative Commons Attribution 4.0 International License.